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Aus der Welt

Aus der Welt

Titel: Aus der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Kennedy
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zum Martinique Beach rausfahren und einen Spaziergang machen – das heißt, falls Ihnen fünfzehn Grad minus nichts ausmachen.«
    »Ich bin aus Neuengland. Da gehen wir bei jedem Wetter spazieren.«
    Martinique Beach war eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von Halifax entfernt. Ich bahnte mir meinen Weg durch eine Reihe scheußlicher Vorstädte, die von Straßen mit Tankstellen und den üblichen Geschäften geprägt waren, bis die Straße schmaler wurde und ich durch kleine, namenlose Orte fuhr, die keinen besonderen ländlichen Charme besaßen. Doch in dem Moment, als ich diese Strecke gerade als wenig reizvoll abschreiben wollte, verengte sich die Straße erneut. Ich nahm eine scharfe Kurve und sah plötzlich das Meer. Ein Stück Wald, ein Stück vom Atlantik, ein kleines Städtchen, eine Brücke, ein weiterer kurzer Ausblick aufs Meer, ein Haus, eine Wiese, noch ein Ausschnitt Aquamarinblau. Wenn man diese Straße entlangfuhr, bekam man immer wieder neue visuelle Anreize – flüchtige Ausblicke auf Strand und Wellen.
    Ich folgte den Schildern zum Martinique Beach, fuhr eine kleine Landstraße entlang, wobei die menschenleere, bewaldete Landschaft vereinzelt von einer Scheune oder einem Haus unterbrochen wurde. Dann verlief die Strecke plötzlich parallel zu den Dünen, wo struppige Vegetation den Sand verunzierte wie Pockennarben ein Gesicht. Obwohl ich beide Fenster gegen die Kälte geschlossen hatte, konnte ich die Brandung hören. Ein Stück weiter vorn gab es einen kleinen Parkplatz. Er war vollkommen leer, da sich an einem solchen Januarmorgen nur ein Masochist hier rauswagen konnte. Ich stellte den Wagen ab, schloss den Reißverschluss meines Parkas, zog mir eine Wollmütze über die Ohren und wagte mich hinaus in die Kälte.
    Und es war, weiß Gott, kalt. In Halifax waren es fünfzehn Grad minus gewesen, doch hier blies ein Nordwind, der die gefühlte Temperatur um mindestens zehn Grad senkte. Aber ich war nicht den weiten Weg gekommen, um jetzt umzukehren und irgendwo Schutz zu suchen. Ich würde diesen verdammten Strandspaziergang machen. Ich steckte meine behandschuhten Hände in die Parkataschen und folgte dem kleinen Weg durch die Dünen. Dann starrte ich auf den Atlantik. Der Strand war riesig. Er war kilometerlang und hätte an diesem subarktischen Tag genauso gut ein Vorposten der mongolischen Steppe oder der hinterste Winkel Patagoniens sein können: das Ende der Welt. Es herrschte Ebbe. Der Wind gab ein leises, aber durchdringendes Heulen von sich, das jedoch von der donnernden Brandung übertönt wurde. Nicht zuletzt deshalb, weil die Wellen wild und urgewaltig waren und mit einer alttestamentarischen Wucht ans Ufer schlugen. Der Himmel war schiefergrau, die Welt schien jede Farbe verloren zu haben. Martinique Beach besaß in seiner strengen Monochromie so etwas wie eine elementare Größe.
    Ich lief los. Zum Glück hatte ich Rückenwind, der mir allerdings auf dem Rückweg ins Gesicht blasen würde. Die Brise trieb mich vorwärts. Ich hob den Kopf und riss die Augen auf gegen die Kälte. Meine Nasenlöcher froren fast zu, sogen jedoch gierig die salzige Luft ein. Ich war die Einzige am Strand. Sollte ich mir den Knöchel verstauchen und wäre unfähig zu laufen, könnten Tage vergehen, bis man mich fände. Und bis dahin …
    Aber dieser Gedanke beunruhigte mich nicht. Vielleicht lag es am Endorphinrausch, den mir dieser Spaziergang bei Minusgraden an dem menschenleeren, schier endlosen Sandstrand bescherte. Vielleicht fühlte ich mich so eins mit der Natur, so von ihr überwältigt, dass ich wusste: Hier, auf diesem merkwürdigen, gottverlassenen Planeten waren höhere Mächte am Werk. Aber vielleicht lag es auch nur an der brutalen Kälte und dem finsteren, wütenden Toben des Meeres, dass ich plötzlich an nichts anderes mehr denken konnte – auch nicht an die Altlasten, die ich sonst immer mit mir herumschleppte. Warum auch immer – für einen kurzen Moment hörte ich auf zu grübeln, und ich war beinahe glücklich. Ich hatte das reine, unverfälschte Gefühl, ausschließlich im Hier und Jetzt zu leben, von meinem biografischen Ballast befreit zu sein. Fühlte es sich so an, das Glück? War es das, hin und wieder ein flüchtiger Moment, in dem man vor sich selbst davonlaufen kann? In dem man den Gedanken ausweicht, die einen bis in die Träume heimsuchen, und sich vergegenwärtigt, was für ein Wunder unser Aufenthalt auf dieser Erde doch ist? Brauchte ich solche Extreme wie Kälte und

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