Aus Nebel geboren
französische Straßenleben, und es war, als würde ein Pinsel neue Farbe auftragen.
Jade holte ihren Joint aus der Tasche und schlüpfte aus der Jacke. Ihr unfreiwilliger Auftrag würde ihr wenigstens diesen kurzen Moment mit sich selbst ermöglichen. Sie schlenderte die Straße in Richtung der Metro entlang und genoss die bereits tief stehende rote Sonne auf ihren Schultern. Der süße Rauch erfüllte ihren Mund und gelangte wie von selbst in ihre Lunge. Das brauchte sie, um tun zu können, was man von ihr verlangte.
Lamar war zusammen mit Cruz und Louis in die Stadt gekommen. Sie alle trugen Jeans und unauffällige Shirts, unter denen die Klingen an ihren Armen nicht zu erkennen waren. Sie vermochten auch sonst zu verbergen, dass sie aus einer längst vergangenen Zeit kamen. Sie hatten gelernt, sich anzupassen und jede Epoche, jedes Jahrhundert zu ihrem zu machen. Dabei würden sie nie zu Menschen dieser Zeit werden, denn, was sie in dieser endlosen Zeit gesehen und erlebt hatten, hatte ihr Wesen geprägt, ihren Geist und ihre Gefühle. Unsinnige Kriege, schreckliche Katastrophen und verheerende Krankheiten, die immer wieder das Antlitz Europas verändert hatten, waren auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen.
So vieles, über das sie im Laufe der Zeit gelacht, geweint, gegrübelt oder gestritten hatten, dass es Lamar schien, die Menschen, denen er heutzutage begegnete, wären leer im Vergleich zu der Fülle an Dingen, über die er nachdachte. Wohin das noch führen würde, mochte er sich nicht auszumalen, denn schon jetzt erschien ihm der moderne Mensch wie ein Wesen einer anderen Rasse. Die Unterschiede zwischen seinen Brüdern und dem Rest der Menschheit wurden von Jahrhundert zu Jahrhundert größer, aber die Dämmerung würde ihnen helfen, das zu verschleiern.
Louis unterbrach seine Grübeleien.
„Dort ist die Reinigung, die Julien notiert hat. Ich schlage vor, wir teilen uns auf, damit es nicht so offensichtlich ist, dass wir hier Posten beziehen.“
Lamar war einverstanden.
„Gut. Cruz, du bleibst hier, ich drehe noch eine Runde, überprüfe die Straße und die Nebenstraßen. Wenn das erledigt ist, übernehme ich.“
Louis strich sich über den Bart.
„Ich bleibe im Wagen, für den Fall, dass etwas passiert. Ich bin … in der Nähe.“
Damit trennten sich die Männer, und nur Cruz blieb, lässig an einen Baumstamm gelehnt, zurück und tat so, als beschäftigte er sich mit seinem Handy. Dabei sah er sich unauffällig um.
Keiner schien von ihm Notiz zu nehmen. Das trockenere Wetter lockte wieder mehr Menschen auf die Straßen, und sofort lag der Singsang verschiedensprachiger Touristengruppen in der Luft. Natürlich gab es in dieser Ecke von Paris nicht viel zu sehen, aber man kam unweigerlich hier in der Nähe vorbei, wenn man eine der Bahnlinien bei Saint Lazare verließ und von dort in Richtung der Sehenswürdigkeiten nahe der Seine aufbrach. Die Madeleine , das Musée du Louvre und auf der Île de la Cité die Sainte Chapelle und Notre Dame lagen auf einer Linie zu dieser Bahnstation.
Es war für Pariser Verhältnisse ein sehr ruhiger Abend. Der Verkehr rollte, und das Hupen hielt sich in Grenzen. Hinter den Fenstern der Reinigung konnte Cruz nichts Auffälliges erkennen. Der kleine Laden schien regelrecht zwischen den beiden größeren Gebäuden zerquetscht zu werden, und es wirkte aufgrund der schief hängenden Ladenmarkise so, als beuge sich das Haus langsam dem Druck von den Seiten.
Kurz nach acht öffnete sich die Tür der Wäscherei. Eine ältere Frau kam heraus und schloss ihren Mantel, zog sich ein durchsichtiges Plastikkopftuch über die graue Dauerwelle und sah kritisch in den Himmel. Sie schien den vereinzelten Wolken nicht ganz zu trauen. Mit einem Gruß über die Schulter verabschiedete sie sich von einem Mann, der der Besitzer zu sein schien, da dieser nun die Tür von innen abschloss.
Es dämmerte bereits, als endlich das Licht hinter den Schaufenstern erlosch. Bald würde Julien mit der Frau ankommen. Cruz versuchte, Louis und Lamar auf ihren Handys zu erreichen, aber wie immer, wenn es wichtig war, ging nur die Mailbox ran.
Schlecht gelaunt sah er sich um. Wo steckten denn alle? Seit Stunden hatte er von ihnen nichts gehört. Lamar sollte längst wieder hier sein, und Louis …
In seinem Ärger wäre ihm beinahe der Mann in der schwarzen Soutane auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgangen. Sie waren so oft in Kämpfe und Konflikte mit der Kirche geraten,
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