Ausflug ins Gruene
einer grauen Hauswand steht, hat man keine Chance, sie zu bemerken. Allerdings«, Leo sprach jetzt etwas leiser, »unterschätzt man sie manchmal. In Schuldingen kann sie ganz schön energisch werden. Sie opfert ihr ganzes Leben der Schule, soviel ich weiß, und sie fordert von allen Kollegen denselben Einsatz und dieselbe Perfektion.«
»Um was für eine Beförderung ging es denn?«
»Um eine Stelle als Studiendirektor. Bruno Langensieps Platz ist ja vor einigen Wochen frei geworden. Dadurch wird demnächst einer unserer langjährigen Oberstudienräte eine Position nach oben rutschen. Das passiert selten genug, und deshalb waren natürlich einige unserer lieben Kollegen ziemlich scharf auf die Stelle. Von Feldhausen, der Französisch- und Spanischlehrer, war im Gespräch, aber er ist, glaube ich, nicht ehrgeizig genug dafür. Die Hauptkandidaten waren dann eben die Erkens und der Sondermann.«
»Und warum ist Frau Erkens vorgezogen worden?«
»Ganz einfach: weil sie eine Frau ist. Wir haben zwar keine Quotenregelung an der Schule. Aber man hielt es im Orden für sinnvoll, auch mal wieder eine Frau zu befördern. Der zwischengeschlechtlichen Harmonie willen.«
»Und Sondermann ist leer ausgegangen.«
»Oh ja, und es wird beileibe lange keine Stelle mehr in der oberen Etage frei werden. Es sei denn, es passiert mal wieder solch ein unerwarteter Zwischenfall wie mit Bruno Langensiep.«
»Was hältst du denn eigentlich von der Sache?« fragte ich Leo, während wir uns gleichzeitig eine Salzstange in den Mund schoben. »Meinst du, der Unfall von Langensiep war wirklich ein Unfall?«
»Aber natürlich, was denkst du denn? Glaubst du etwa, jemand hat ihn umgebracht?« Leo war ernsthaft entrüstet.
»Ich mein ja nur so«, sagte ich kleinlaut. Leo schien dagegen den Gedanken weiterzuspinnen.
»Mord? Ich habe noch nie ernsthaft darüber nachgedacht. Wie genau hätte man ihn denn dann umgebracht?«
»Jemand könnte ihn in den Steinbruch geworfen haben«, entgegnete ich, als würde ich so etwas alle Tage erleben.
»Du kanntest Bruno Langensiep nicht«, warf Leo ein, »das war kein Büblein, das man mal eben unter den Arm nimmt und in einen Abgrund befördert. Er war zwar alles andere als muskulös, aber immerhin ziemlich groß. Es hätte sicherlich einen Kampf gegeben, und der wiederum hätte Spuren hinterlassen. Die gab es aber nicht – weder an Langensiep selbst noch an der Stelle, wo er heruntergefallen ist. Soviel ich weiß, war das auch der Grund für die Polizei, von einem Unfall auszugehen.«
»Aber wenn Langensiep den Mörder kannte und von ihm zum Steinbruch geführt wurde, wäre ein leichter Schubs in die richtige Richtung sicherlich ausreichend gewesen.«
»Jemand, der ihn kannte?« Leo begann zu grübeln. »Warum bringt man überhaupt jemanden um?« Mein Sportkollege schien in seinem gesammelten Fernsehkrimiwissen zu kramen.
»Um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen«, sagte ich nüchtern, »zum Beispiel, um eine Erbschaft zu machen.«
»Oder aus Rache«, warf Leo ein. Er wurde jetzt richtig aufgeregt. »Vielleicht hat Langensiep etwas getan, wofür ihn jemand strafen wollte. Zuzutrauen wäre es ihm ja.«
»Vielleicht war es auch–« Ich konnte meinen Satz nicht zu Ende sprechen, weil Leo von links in die Seite geknufft wurde.
»Leo, du bist auch da! Wie schön! Und wer ist das?« Ein Blick auf mich.
»Das ist Petra Werms, meine Sportkollegin«, stellte Leo zuerst die kurzhaarige, fröhlich aussehende Frau vor, »und das ist Vincent Jakobs. Er kommt nach den Ferien mit Deutsch und Geschichte. Ich kann dir nur sagen, ein echter Mordskerl.«
Leider kam ich an diesem Abend nicht mehr dazu, meine Theorien mit Leo Brussner zu erörtern. Ich lernte eine Menge meiner zukünftigen Kollegen kennen, die zum Glück nicht alle so skurril waren wie Bernhard Sondermann oder diese Frau Erkens. Die meisten waren nett und ganz normal, so daß ich dem Schulanfang mit nicht allzu großem Schrecken entgegensehen konnte.
Inzwischen hatte ich übrigens auch ein wenig Ruhe in meine Schulvorbereitung bringen können. Meine neue Wohnung war ja nun schon in der ersten Woche fertig geworden. In einer Hauruckaktion hatte ich dann am Wochenende mit einem Mietbulli meine spärlichen Möbel ins neue Zuhause transportiert. Natürlich war noch alles ziemlich provisorisch. Keine Lampe war aufgehängt, die Waschmaschine nicht angeschlossen und die Bücher standen noch in Kisten. Ich rodelte jeden Tag ein bißchen daran
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