Ausgeliebt
triumphierendem Blick eine zerknitterte Visitenkarte in die Hand. »Bitte, bei mir
kommt ja nichts weg. Ruf ihn doch mal an, er ist ein guter Typ, finde ich, du bist doch öfter in Bremen.«
Sie sah auf die Uhr. »Ach du Schande, so spät schon, ich sollte vor zwanzig Minuten im Sender sein.«
Hektisch räumte sie den Inhalt ihrer Handtasche wieder ein, warf mir eine Kusshand zu und verschwand durch die Haustür, die
hinter ihr laut ins Schloss fiel.
Ich setzte mich langsam an den Küchentisch und starrte auf die Visitenkarte.
Immer wieder las ich den Namen, die Adresse der Kanzlei, die Privatadresse. Er hatte immer noch dieselbe Handynummer. Mein
Puls wurde immer schneller, ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Kurz entschlossen stand ich auf, griff nach
Jacke und Tasche und verließ die Wohnung, um mindestens einmal um die Alster zu gehen.
Eine halbe Stunde später verlangsamte ich mein Tempo und ließ die Erinnerungen zu.
Sechs Jahre war es her.
Georg und Dorothea arbeiteten damals beide für einen Fernsehsender mit Sitz in Berlin. Georg lebte damals noch dort. Dorothea
war nach dem missglückten Versuch des Zusammenlebens wieder nach Hamburg gezogen. Einmal im Jahr gab es im Sender ein Sommerfest.
Dorothea konnte meine damalige Faszination für die Fernsehwelt nicht verstehen.
»Sei froh über deine Buchbranche«, hatte sie gesagt, »diese Fernsehleute haben fast alle einen an der Waffel.«
Ich wollte ihr nicht glauben, und um mich zu kurieren, schickte sie Bernd und mir eine Einladung zu diesem Sommerfest. Ich
freute mich sehr, ein ganzes Wochenende in Berlin, mit Sommerfest und Fernsehleuten. Und mittendrin Bernd und ich, vielleicht
würde uns das gut tun, unsere Beziehung veränderte sich damals. Es wäre das erste Mal seit Monaten, dass wir gemeinsam |145| aus unserer Provinz und dem Alltag ausbrechen würden.
Bernd hatte nur einen kurzen Blick auf die Einladung geworfen.
»Ich fahre doch nicht für einen Abend nach Berlin. So ein Schwachsinn.«
Ich versuchte ihn zu überreden.
»Wir können doch das Wochenende bleiben und uns Berlin angucken. Und das Fest wird bestimmt witzig. Wir können bei Georg schlafen,
das kostet doch nichts.«
Bernd winkte ab. »Ich will Sonntag mit Adrian segeln. Außerdem kenne ich da sowieso niemanden.«
Ich war enttäuscht. »Ich kenne da auch keinen, außer Georg und Dorothea. Das macht doch nichts. Vielleicht lernen wir auch
mal nette Leute kennen, komm, wir machen überhaupt nichts mehr zusammen.«
Bernd war durch mit dem Thema. »Ich habe weder Zeit noch Lust, basta. Fahr doch alleine, wenn du da unbedingt hinmusst.«
Ich log Georg und Dorothea vor, dass Bernd arbeiten müsste, und fuhr allein mit der Bahn.
Die beiden holten mich am frühen Nachmittag am Bahnhof ab und schleppten mich zu ihren Berliner Lieblingsplätzen. Wir liefen
kreuz und quer durch die Stadt, ich war von der fremden Großstadtatmosphäre hingerissen und vermisste den Bernd von früher.
Abends war dann das Sommerfest. Ich hatte mir ein rotes Kleid gekauft, war aufgeregt und wollte alles großartig finden.
Dorothea beobachtete meine Vorfreude etwas mitleidig und murmelte leise: »Warte erst mal ab, sei nicht zu enttäuscht nachher.«
Zwei Stunden später verstand ich ihre Skepsis.
Der größte Teil der fast achthundert Gäste bestand aus sehr jungen, sehr blonden und mehrheitlich schwarz angezogenen |146| Medienyuppies. Sie waren höchstens Mitte zwanzig, hatten einheitliche Outfits, die an Uniformierungen erinnerten, schrille
Stimmen und wenig zu sagen. Ich versagte beim Smalltalk, fühlte mich zu alt und falsch angezogen.
Georg bemerkte meinen gequälten Gesichtsausdruck und zog mich in eine kleine angrenzende Bar. Wir ließen uns auf zwei Ledersessel
fallen und atmeten gleichzeitig tief durch. Die laute Musik wirkte gedämpft, auch die Luft war besser als in den anderen Räumen.
Mein Bruder sah mich von der Seite an und lachte. »Ich habe es dir gesagt, der Großteil besteht aus Medienhühnern und Wichtigtuern.
Aber es gibt auch Ausnahmen.«
Plötzlich spürte ich, dass jemand hinter meinem Sessel stand. Ich hörte eine tiefe Stimme, die irgendetwas in meiner Magengrube
verursachte.
»Hier kommt die Ausnahme, grüß dich, Georg.«
Georg stand auf, streckte mit erfreuter Miene einem großen, dunkelhaarigen Mann die Hand entgegen. »Richard, das ist ja klasse,
dass du doch hier bist, ich dachte, du wärst im Urlaub.«
Richard
Weitere Kostenlose Bücher