Ausgeliehen
ins Schlafzimmer, um mich von meinem Vater zu verabschieden. Er schlief noch, mit einer Eispackung auf dem Kopf, wie immer. Nicht weil er Kopfschmerzen hatte – er konnte bloß nicht einschlafen, ohne die Kälte der russischen Nacht zu spüren. Die Decken waren nur für meine Mutter. Ich weckte ihn, gab ihm einen Kuss auf die Wange, und er sagte: »Pass auf dich auf!«
Ich sagte: »Das werde ich!« Mein Vater, Gott segne ihn, tat so, als würde er mir glauben. Er kann alles glauben, wenn er das will.
Es war fast elf Uhr, als wir in den Aufzug stiegen und voller Freude an den Ärmeln unserer frisch gewaschenen Sachen schnupperten. Der Umschlag mit dem Geld steckte in meiner Jeanstasche, eine dicke Beule, die ich immer wieder kontrollierte. Ian trug seinen Rucksack und eine Supermarktplastiktüte und die Schuhschachtel. Es war eine alte Hush-Puppies-Schachtel, und vom Deckel starrte mich das Markenzeichen an, ein schwarzweißer Beagle mit schrecklichen Augen.
»Können wir uns die Lobby anschauen?«, fragte Ian. Wir waren gestern durch die Tiefgarage gekommen. Ich drückte auf den Knopf mit dem Buchstaben »L«.
»Da ist nicht viel zu sehen. Es ist nicht wie in einem Hotel.«
»Gibt es da einen Portier?«
»Nein, das ist kein Gebäude, das man zu Fuß erreicht. Aber es gibt einen Sicherheitsmann.«
Als wir aus dem Aufzug kamen, war die Theke am Eingang menschenleer. »Nimmt er diese Person fest?« Ian deutete zur Glastür, wo der Sicherheitsbeamte mit einem Mann sprach. Der Mann trug schwarze Jeans und hielt in der einen Hand eine Reisetasche und in der anderen einen riesigen Strauß roter Rosen.
Der Mann war Glenn.
Glenn sah mich durch das Glas, bevor ich Ian zurück zum Aufzug zerren und zum Auto fliehen konnte. Er winkte und deutete auf mich, hielt die Blumen hoch und sagte etwas zu dem Sicherheitsmann. Da er mich gesehen hatte, konnte ich nicht mehr fliehen, zumal er mit Sicherheit auch Ian gesehen hatte – ich musste ruhig bleiben. Der Beamte schaute mich an, ob ich zustimmte, und ich muss genickt haben. Glenn kam durch die Tür, wobei er den Blumenstrauß hochhielt, und brachte einen Schwall kalter Luft herein.
»Überraschung!«
»Kann man wohl sagen.«
»Ich habe das Gebäude gefunden, aber ohne Wohnungsnummer wollten sie mich nicht reinlassen.« Er gab mir die Rosen und breitete die Arme aus, als er Ian bemerkte, der neben mir stand und ihn anstarrte.
»Wer ist der Kumpel?«, fragte Ian. Das Wort ›Kumpel‹ klang bei ihm so seltsam wie das Wort ›Pittsburgh‹ bei meinem Vater.
»Ich habe mich das Gleiche gefragt.« Glenn hatte ein breites Grinsen auf dem Gesicht, fest entschlossen, wie ein Mann auszusehen, der Kinder für etwa Großartiges hielt.
Bevor Ian sich vorstellen konnte, sagte ich: »Das ist Joey.« Wer weiß, vielleicht hatte er ja in den Lokalnachrichten von St. Louis etwas über einen vermissten Jungen namens Ian gehört. Und obwohl ich Glenn bestimmt nichts von der Origami-Mail erzählt hatte, hatte ich Ian vermutlich einmal erwähnt. Er war das Zentrum der meisten meiner Bibliotheksgeschichten. »Joey ist der Sohn meiner Freundin, von der ich dir erzählt habe. Janna Glass. Ich kümmere mich eine Weile um ihn. Eigentlich fahre ich ihn jetzt zu seiner Großmutter nach Cleveland, wo er bleiben soll, bis seine Mutter wieder gesund ist.«
Ian streckte seine Hand zur Begrüßung aus. »Joseph Michael Glass.«
Glenn schüttelte Ians Hand, er grinste weniger und sah auch weniger überzeugt aus.
»Ich glaube, ich sage weiterhin Kumpel zu dir«, sagte Ian.
Glenn wandte sich wieder mir zu, offenbar zufrieden, dass er dem Kind genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte. »Jetzt hör zu, was passiert ist. Weißt du noch, gestern, als wir miteinander sprachen? Ich habe angerufen, um dir zu sagen, dass wir unsere Verabredung verschieben müssten, weil ich wegfahren müsste, rate mal, wohin …«
»Chicago?«, fragte Ian.
Glenn ignorierte ihn. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich manchmal im Chicago Symphony Orchestra jemanden vertrete, und am Montagmorgen bekam ich einen Anruf, also fuhr ich hierher und hatte gestern Abend das Konzert – es war übrigens umwerfend –, und heute habe ich den Vormittag damit verbracht, dein Haus zu finden. Das war nicht leicht! Ich habe mich aber erinnert, dass du Lake Shore Drive gesagt hast, also habe ich ein bisschen Detektiv gespielt und, langer Rede kurzer Sinn, hier stehe ich zu deiner Verführung!«
»Zu meiner was?«
»Ich sagte, ich stehe
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