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Ausgeliehen

Ausgeliehen

Titel: Ausgeliehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Makkai
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wollte, ich nahm ihn, weil er mir gehörte, und weil ich auf alles vorbereitet sein wollte. So wie Ian seinen lächerlichen Schwimmausweis eingepackt hatte. (Vielleicht versuchten wir ja auch beide verzweifelt, unsere Identität zu beweisen: Ja, das bin ich, diese lächelnde, belesene Person. Sie sehen keinen Flüchtling vor sich.)
    Der Laptop meines Vaters war an, und schon war ich online, ob ich wollte oder nicht. Als ich beschlossen hatte, hierzubleiben, hatte ich angenommen, dass ich keinen Zugang zum Netz haben würde, und das hatte mich erstaunlicherweise erleichtert. Ich wollte nicht wissen, was da draußen los war. Ich wollte es noch immer nicht wissen, aber der PC war an und ich gab Ians Namen als Suchbegriff ein. Es schien einige Artikel in Regionalzeitungen gegeben zu haben (»Ein Junge aus der Gegend vermisst«, »Hannibal, Junge seit Sonntag vermisst«), aber als ich die Links öffnen wollte, wurde ein Passwort verlangt. Ich hätte eine Monatsgebühr bezahlen müssen, um Zugang zu bekommen, und ich hätte meinen Namen angeben müssen. Ich ging auf die Homepage der Hannibal Day, fand aber nur ein Foto von Kindern mit großen Mützen, die im Schnee lachten, und einen veralteten Hinweis auf das Programm für die Winterferien. Dann gab ich Pastor Bob als Suchbegriff ein und fand heraus, dass er seit ein paar Monaten einen Gebetsblog unterhielt – im Wesentlichen eine Pressemeldung pro Woche, getarnt als Gebet.
    Der Eintrag dieser Woche hieß: »Los geht’s! Wir verbreiten Gottes Liebe in Amerika!« Der Text war schwer lesbar: kalligraphische Schrift auf einem hellblauen Hintergrund. Plötzlich fiel mir ein, wie mein Freund Darren Alquist im letzten Schuljahr, als wir am Schaufenster der christlichen Buchhandlung »Grüne Weiden« im Einkaufszentrum vorbeigegangen waren und die geblümten, gerahmten Gedichte und die Bücher mit Sonnenuntergang auf dem Umschlag betrachtet hatten, gesagt hatte: »Woher wissen die eigentlich, dass Gott Kalligraphie liebt? Und wenn Gott Kalligraphie hasst ?« Wir hatten diesen Satz noch Wochen danach wiederholt, und ich hatte in sein Jahrbuch geschrieben: »Gott hasst Kalligraphie!« Pastor Bobs Webseite sah sehr christlich aus, dennoch war die Schönschrift vielleicht nicht der beste Einfall für jemanden, der verzweifelt versuchte, nicht schwul zu wirken.
    Eine halbe Seite später, unter der Ankündigung, er wolle mit DeLinda »im Bobmobil« zu einer Ostküstentour aufbrechen, stand Folgendes:
    Betet bitte für Ian D., ein junges Schaf in unserer Herde in St. Louis, das Gott hat irren lassen. Wir beten für seine Rückkehr und für seine liebenden Eltern, die meine treuen Unterstützer sind. »Gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße, und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet’s; lasset uns essen und fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.« Lukas 15, 22–24
    Ich würde gerne sagen, es sei schwer, Pastor Bob zu hassen, wenn er so aufrichtig war (oder es zu sein schien). Aber es war nicht schwer. Ich starrte auf das unscharfe Foto von Bob und DeLinda vor dem Bobmobil (leider nur ein großer blauer Bus), auf seinen pummeligen, blassen Arm, der aus dem Ärmel des gelben Poloshirts heraushing, auf das falsche Politikergattinenlächeln seiner Frau, und ich musste mich beherrschen, um nicht mit einem Bleistift durch den Bildschirm von meines Vaters Laptop zu stechen.
    Schnell loggte ich mich in meinen E-Mail-Account ein, wo achtzehn neue Nachrichten auf mich warteten, aber nichts schien im Moment wichtig zu sein. Ich schrieb an Rocky: »Habe heute einen eineiigen Zwilling von Loraine auf der Straße gesehen! Du wärst gestorben! Ich weiß nicht, ob ich es dir gesagt habe: Ich bin hier, um einer kranken Freundin aus der Highschool-Zeit auszuhelfen … Deshalb ist mein Handy aus, wenn ich im Krankenhaus bin, aber bitte sprich auf den AB und lass mich wissen, ob die Bibliothek noch steht!« Ich fühlte mich ein bisschen besser, nun, da die beiden Geschichten zueinanderpassten. Vermutlich hatte ich zu viele Ausrufezeichen benutzt, aber ich wollte sie nicht löschen. Ich wollte mich hinter ihrem manischen Enthusiasmus, hinter ihrem idiotischen Glitzern verstecken.
    Als ich wieder auftauchte, hatte Ian seine Anziehsachen bereits aus dem Trockner geholt, und meine Mutter faltete das große weiße Unterhemd meines Vaters zusammen, in dem Ian geschlafen hatte. Ich ging

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