Ausreißer
Sympathie entgegen wie Jabali Linh. Genauer ausgedrückt: Die beiden
kleinen Geschwister konnten sich nicht ausstehen und gerieten jedes Mal schon nach kurzer Zeit in einen heftigen Streit.
Entsprechend fiel Rasuls Begrüßung aus, als er Linh vor der Tür sah. Seine Lippen verzogen sich zu einem Flunsch. Seine Augen
flatterten ängstlich. Unwillkürlich ging Rasul einen Schritt zurück, senkte den Kopf und drückte die Tür wieder ein Stück
zu.
»Keine Angst«, beruhigte Linh ihn sofort. »Meine Schwester ist nicht hier.«
Sogleich hellte sich Rasuls Miene ein wenig auf.
»Wir wollen zu Jabali«, sagte Ilka.
Der Kleine schüttelte den Kopf.
»Ist nicht da?«, fragte Ilka.
Der Kleine schüttelte den Kopf.
»Ist deine Mutter denn da?«
Doch da kam sie schon, begrüßte die Mädchen herzlich und bat sie, in Jabalis Zimmer auf ihn zu warten. Denn Jabali müsse jeden
Augenblick zurücksein. Er machte nur einen kurzen Dauerlauf und wollte dann – sie sah auf die Uhr – um 16 Uhr zum Radtraining.
Auch Linh warf einen Blick auf ihre Uhr. Bis dahin blieben nur noch 20 Minuten Zeit. Sie wechselte einen kurzen Blick mit Ilka. Sie beide hatten sich erhofft, ausführlicher mit Jabali reden zu
können. Dennoch nahmen sie die Einladung an, gingen in Jabalis Zimmer und wollten sich irgendwo hinsetzen. Doch es gab keinen
Platz.
Auf dem Bett lagen ausgebreitet Jabalis Radtrikot, seine Radhose, der Helm, die Handschuhe, spezielle Radsocken und die Schuhe
mit dem Klicksystem. Offenbar wollte Jabali direkt von zu Hause aus mit dem Rennrad zum Training fahren.
»Ich denke, der fährt nicht mit dem Rad durch die Stadt?«, wunderte sich Linh.
»Nicht in die Schule«, präzisierte Ilka. »Zum Training fährt er in die andere Richtung, durch den Park und Nebenstraßen. Außerdem
muss er das Rad beim Training nicht abstellen.«
Auf dem Schreibtischstuhl und dem Sitzkissen lag zusammengeknüllte schmutzige Wäsche. Über den ganzen Boden lagen Sachen verstreut:
Wäsche,Hefte, Bücher, Taschen, Tüten, Kartons, Seile, Hanteln, Laufschuhe, Straßenschuhe, Turnschuhe, Käppis und sogar Schulhefte.
Wie kann man in so einem Zimmer wohnen?, fragte sich Linh. Vorsichtig versuchte sie, auf dem Sitzkissen etwas Platz zu schaffen,
um sich darauf setzen zu können.
Unter dem durchgeschwitzten T-Shirt , das Linh mit zwei Fingern anhob, um es beiseitezulegen, tauchte Jabalis Matheheft auf.
Linh warf einen kurzen Blick hinein. Auf der letzten beschriebenen Seite las sie die Hausaufgaben, die sie schon vor den Osterferien
aufgehabt hatten. Linh blätterte weiter, um festzustellen, ob in dem Heft noch Platz war. Es war erst zur Hälfte vollgeschrieben.
Linh schaute vorn auf den Umschlag. Unter Jabalis Namen stand »Mathematik« und das richtige Schuljahr. Kein Zweifel, das war
Jabalis aktuelles Matheheft.
»Der hat seit den Osterferien nichts mehr mitgeschrieben«, stellte Linh bestürzt fest. Sie legte das Heft auf den überfüllten
Schreibtisch und setzte sich auf das Sitzkissen. »Und er hat auch seit Wochen nicht mehr aufgeräumt.«
Ilka lachte. »Vielleicht hat er noch nie aufgeräumt! Du kennst doch die Jungs!«
»Bei Lennart sieht es ordentlicher aus«, korrigierte Linh, ohne auf den Scherz einzugehen.
Nun blickte auch Ilka Linh ernst an. Anschließend schaute sie sich weiter in dem Zimmer um. Nachdenklich sagte sie: »Vielleicht
hast du recht. Nichts gegen sportlichen Ehrgeiz. Aber es könnte schon sein, dass Jabali mit dem Radfahren übertreibt. Das
hätte ich nie von ihm gedacht. Ausgerechnet Jabali, der doch immer das natürliche Laufen propagiert hat.«
Linh nickte Ilka zu. Dabei entdeckte sie auf dem Boden eine seltsame Packung, die platt getreten neben dem Papierkorb lag.
Vermutlich war sie aus dem überquellenden Papierkorb herausgefallen.
Linh hob die zerknüllte Packung auf und wollte sie zurück in den Mülleimer werfen, als sie stutzte. »Was ist das denn?«
Ilka, die gerade dabei war, mit einem Papiertaschentuch ein altes Kaugummi vom Schreibtischstuhl zu entfernen, sah hinüber
zu Linh: »Was denn?«
»Schau mal!« Linh hielt ihr die Packung hin. »Schon wieder ein Medikament.«
»Steht darauf, was das ist?«, fragte Ilka nach.
Linh schüttelte den Kopf. »Der Beipackzettel fehlt. Und auf der Packung steht nur der Name: Hyxal. Noch nie gehört. Auf jeden
Fall sind es andere als die, die er mit in der Schule hatte, und auch als die, die wir im Van gefunden
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