Aussortiert
gleich wohler. Er mochte nicht als
derjenige gelten, der aufgrund pedantisch ausgelegter Gesetzestreue mutmaßliche
mehrfache Mörder auf freien Fuß setzte. Vielmehr, er wollte der
Presse nicht als Buhmann zum Opfer fallen. Andererseits gab es das Gesetz,
und das Gesetz war für ihn nicht nur die sichere Seite, es war ihm
eine Art Religionsersatz.
Nabel gab sich durchweg
pflegeleicht und kompromißbereit. »Das ist alles ganz allein
Ihre Entscheidung, Herr Dreipfuhl. Die werde ich akzeptieren, wie immer
sie ausfällt, was bleibt mir denn übrig?«
Dreipfuhl begriff, daß
ihm hier der Schwarze Peter zugeschoben wurde, und wand sich hin und her
auf seinem Stuhl. »Wir können ja immerhin Zeit schinden. Ich
komme Ihnen ja gern entgegen! Identifizieren Sie den Mann! Das würde
enorm helfen. Haben wir seine Fingerabdrücke nicht in der Kartei?«
»Nein, das wurde natürlich
sofort überprüft.«
»Zum Glück ist
heute Sonntag. Damit können wir tricksen. Der zuständige
Staatsanwalt – also ich – ist einfach nicht aufzufinden. Nehm
ich auf meine Kappe. Unter uns, das ist ein im Grunde fieser Trick aus
finsteren Zeiten, aber damit verlegen wir die Anhörung erstmal auf
Dienstagmorgen, gut?«
»Gut. Wir verstehen
uns.«
Nabel unterrichtete seine
Leute von der neuen Situation, bemühte sich, die Euphorie zu dämpfen
und zeigte ein Foto des Verhafteten herum. Lidia zog eine skeptische
Schnute, daraufhin angesprochen, schwieg sie jedoch, als habe man ihr die
Lippen zugenäht. Ahmed meinte, ihm komme die Fresse irgendwoher
bekannt vor. Nabel nahm die beiden mit in den U-Haft-Trakt des Gefängnisses
Tegel, wo ihnen kurz nach 13 Uhr der Verdächtige in Handschellen
vorgeführt wurde. Die Presse hatte bereits Wind von der Sache
bekommen, lungerte vor dem Gebäude herum und forderte Statements, die
verweigert wurden.
Der bullige Mann sah nicht
ungefährlich aus. Auf deutsch, englisch, italienisch (Lidia), in
gebrochenem Französisch (Kai und Lidia) und Türkisch (Ahmed)
nach seinen Personalien befragt, schwieg er. Seine Augenbrauen waren
zusammengewachsen, die Wangenknochen traten stark hervor. Fliehendes Kinn,
kurzer Hals. Haarausfall im Zentrum des Schädeldaches, vulgo Platte,
kaschiert durch quergelegte Scheitelsträhnen. Grüne Augen,
breite Nase, volle fleischige Lippen. Verbrechervisage, hätte die
Boulevardpresse eine solche Erscheinung flapsig kommentiert. Aber was der
Boulevardpresse zu schreiben erlaubt war, war der Exekutive nicht mal zu
denken erlaubt.
Ahmed zupfte seinen
Vorgesetzten am Ärmel, die beiden gingen kurz in den Nebenraum, während
drinnen Lidia dem Verdächtigen einen Schokoriegel anbot, den dieser
kommentarlos ablehnte und zum Fenster sah.
»Ich hab den irgendwo
schon mal gesehen, Chef.« Ahmed wurde zunehmend sicherer. Er ging
nochmal rein, sagte laut etwas auf türkisch zu dem Mann, der
reagierte darauf auf so konzentrierte Weise nicht, daß man das Gefühl
bekommen mußte, er habe sehr wohl verstanden, halte sich aber, wenn
auch mühsam, im Zaum.
Was Ahmed ihm gesagt habe,
wollte Nabel wissen.
»Daß er große
Ähnlichkeit mit ner Frau hat, die ich mal gefickt hab. Muß
seine Schwester gewesen sein. Oder seine Mutter.«
»Ach, Kacke, laß
das!«
»Wenns aber hilft?«
»Egal, Ahmed! Das ist
nicht unser Stil. Kennst du ihn nun, oder nicht?«
»Ich müßte
die Kartei durchforsten.«
»Es hat keinen
Datenabgleich bei den Fingerabdrücken gegeben.«
»Ich versuch dennoch
mein Glück, wenn ich darf.«
»Ich weiß zwar
nicht, was das soll, aber bitte, von mir aus. Warte hier! Du fährst
uns nachher aufs Revier zurück.«
»Na klar … ich
stell mich da in die Ecke und verschränk die Arme auf dem Rücken.«
Ahmed grummelte beleidigt, fühlte sich vom Brennpunkt ausgeschlossen
und zum Fahrer degradiert.
Nabel und Lidia unterhielten
sich noch eine Weile schweigend mit dem Tatverdächtigen. Das, indem
sie ihm Fotos der bisherigen Opfer zeigten. Der Mann schloß einfach
die Augen und machte sie nicht wieder auf, bis ihn der Vollzugsbeamte zurück
in seine Zelle führte.
Man hatte dem Häftling
noch keinen Pflichtverteidiger zugewiesen, eine grobe Inkorrektheit, gewiß,
andererseits hatte er bisher nach keinem verlangt, noch war einer jener
oft unvermeidlichen Selbstdarsteller aufgetaucht, die solche Typen
kostenlos verteidigten, nur um sich im
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