Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Tempeleingang. Auch eine Frau mit einem Kind im Arm kam heraus, die sich vor den hellen Flammen wie ein dunkler Schattenriss abzeichnete. Sie drehte sich um und ging wieder hinein.
Nach ihr erschien niemand mehr. Boudicca rang mit sich, um das Bild dieser Frau aus dem Kopf zu bekommen, sagte sich immer wieder, dass auch sie eine Römerin sei und damit den Tod verdient habe. Der Wind drehte, wehte ihr den beißenden Rauch und den würgenden Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase; schützend zog sie sich den Umhang vors Gesicht und fühlte sich einen kurzen schrecklichen Augenblick lang zurückversetzt nach Dun Garo, wo sie Prasutagos auf dem Scheiterhaufen brennen sah. Auch die Männer und Frauen im Tempel waren Ehemänner und Ehefrauen … Römer … Qual und Schmerz ergriffen sie, aber im allgemeinen Tumult hörte niemand ihr Stöhnen.
Eine jubelnde Menge umringte sie. Sie konnte nicht wegrennen. »Helft mir«, wisperte sie, aber selbst Eoc, der neben ihr stand, hörte sie nicht.
Nur die Göttin, die wie eine dunkle Flut in ihr aufstieg, erkannte ihre Qual, teilte sie und nahm sie auf, zog einen sanften Schleier zwischen Boudicca und die Welt. Wie ein Beobachter aus weiter Ferne sah sie zu, wie mächtige Steine barsten, von den Mauern platzten, bis nur noch die brennenden Stützpfeiler, das tragende Skelett des Tempels, standen. Und dann waren auch sie verschwunden. Nun sah Boudicca sich in einem goldenen Land und schaute Prasutagos zu, der eine Mauer baute.
Unterdessen weilte Cathubodva in Colonia und beobachtete, wie der Tempel des Claudius in Flammen aufging. Nur die Fassade des Gebäudes stand noch. Und als auch sie ins Wanken geriet, brachen die Männer in hellen Jubel aus. Ganz kurz war der Adler auf dem Firstbalken als scharfer Schattenriss vor den Flammen zu sehen, dann geriet er in den Wirbel einer dicken Wolke und stürzte nieder.
Die Hörner der Kelten schmetterten triumphierend, doch wurden ihre Klänge übertönt vom Jubelgeschrei der Menge. Und mitten unter ihnen stand die Göttin und weinte Boudiccas Tränen.
Lhiannon fuhr erschrocken aus dem Schlaf. Sie lag noch immer unter der Dornhecke. Ihr Herz pochte wie wild, und sie versuchte herauszufinden, welche neue Gefahr sie aufgescheucht hatte. Der Tag war bereits angebrochen, aber die Sonne hatte sich noch nicht über die Berge auf dem Festland geschoben. Von Oakhalls her vernahm sie lautes Rufen und dann den harten Ton einer römischen Trompete, der wieder und wieder erschallte. Sie zuckte zusammen, als sie sich rührte und bei jeder Bewegung sämtliche Schürfungen und Schrammen spürte. Sie spähte durch die Blätter.
Noch immer lag schwarzer Rauch über Oakhalls und dem Heiligen Hain. Auf dem Spielfeld der Schüler sammelten sich die Soldaten, immer mehr, während die Trompeten bliesen und bliesen. Lhiannon verkroch sich wieder in ihr Loch, als zwei Soldaten schnellfüßig vorbeistapften. Vielleicht waren es die gleichen, die sie am Abend zuvor um ein Haar entdeckt hätten. Jetzt machten sie offenbar keine Jagd auf Flüchtige. Aus ihrem Gemurmel zu schließen, waren sie genauso verwirrt wie sie selbst.
In der Geschwindigkeit, mit der sich der ungeordnete Haufen von Männern zu geordneten Reihen formierte, lag eine Anmut, die beunruhigend war. Nie würde man Britannier sehen, die Haltung annahmen und stillstanden wie Standbilder, wenn ein Befehlshaber vorüberging. Während sie zusah, trafen weitere Soldaten ein. Sie zogen wohl auch die Außenposten ein. Aber warum? Sicherlich wollten sie die Insel erneut nach Flüchtigen durchkämmen, wenn es richtig hell war.
Lhiannon verfolgte das Geschehen den ganzen Morgen über, aber es kamen keine weiteren Soldaten mehr. Kurz vor Mittag bliesen die Trompeten erneut, und die Römer marschierten in exakt formierten, geschlossenen Reihen ans Ufer. Als auch der Letzte von ihnen verschwunden war, begann Lhiannon zu weinen, ließ allen Tränen freien Lauf, die sie sich in der langen, schrecklichen Nacht verbissen hatte. Und als sie aufgehört hatte, kroch sie aus ihrem Loch und machte sich auf zur Heiligen Stätte der Druiden, oder vielmehr zu dem, was davon noch übrig war.
Der beißende Gestank von verkohltem Stroh lag in der Luft. Lhiannon zog sich den Schleier vors Gesicht, doch das nützte nicht viel. Als sie näher kam, konnte sie einen Übelkeit erregenden Hauch von verbranntem Fleisch riechen und den stechenden Gestank von Blut. Die Balken der Pforte lagen verkohlt am Boden, doch bevor sie in
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