Azurblaue Gewalt (Carla, John und Franklyn)
große Blutpfütze befand.
„Oh Gott, was ist ge schehen?“, fragte John zitternd. Er hielt sich die Hand vor den Mund, weil er befürchtete, dass er sich gleich übergeben musste. Dann drehte er sich von diesem entsetzlichen Anblick weg.
„Gehen Sie aus dem Weg“, rief ihm ein Mann zu, der mit einem Erste-Hilfe-Koffer angerannt kam. „Ist Ihnen etwas passiert?“
„Nein, ich bin okay“, antwortete John. Dann ging er beiseite, um den Mann mit dem Koffer vorbei zu lassen.
„Den kannst du vergessen. Komm raus hier, überlass das der Polizei“, sagte sein Kollege und zog den Mann mit dem Koffer an der Schulter zurück. „Der hat keinen Kopf mehr. Du kannst ihn nicht mehr retten.“ Beide verließen den Sicherheitsbereich, schlossen die Metalltür und gaben einen Code in die Tastatur ein, sodass die Tür wieder verriegelt wurde.
John war kreideweiß im Gesicht, als er mit gesenktem Kopf den Produktionsbereich verließ. Er zog es vor, nach Hause zu fahren und sich auszuruhen. Dermaßen schlimme Unfälle konnte er nicht verkraften.
Die Winchester
Auf Carlas Tagesplan stand heute ein Treffen mit einem Ehepaar aus der Nachbarschaft. Sie musste mit ihnen ein paar Neuigkeiten besprechen. Die Straße, die an ihren Häusern vorbei führte, sollte repariert werden, und alle, deren Grundstück Berührung mit der Straße hatten, sollten sich an den Reparaturmaßnahmen finanziell betrachtet beteiligten. Da Carla aber Mieterin und nicht Eigentümerin war, war sie mit einer Beteiligung nicht einverstanden. Sie hielt es für eine Unverschämtheit, dass sie angeschrieben worden war.
Opa Clarence gesellte sich ebenfalls dazu. Mit seinen neunundsiebzig Jahren war er mittlerweile ganz schön zerstreut. Eigentlich wusste er gar nicht so recht, was es zu bedeuten hatte, dass er sich an Kosten beteiligen sollte. Er hatte mit seiner kleinen Rente sowieso keine Chance, auch nur einen Bruchteil der ihm zugesandten Kostenaufstellung zu begleichen.
Seine Frau lebte nicht mehr, sie war vor einigen Jahren eines natürlichen Todes gestorben. Seitdem widmete er all seine Zeit seinem Hobby, den Waffen. Ganz besonders stolz war er auf seine Winchester. Zu Lebzeiten seiner Frau musste er sich ständig die Nörgelei über sein Hobby anhören. Waffen seien gefährlich, er würde sich eines Tages damit verletzen. Doch Clarence war ein erfahrener Mann. Er wusste, wie er mit seinen Waffen umzugehen hatte. Er sollte sich auf den Rat seiner Frau ein neues Hobby zulegen, doch diese überflüssige Nörgelei verpuffte bei ihm im Äther. Er putzte die Waffen jeden Tag, baute sie auseinander und setzte sie wieder zusammen. Er kannte jede Feder und jeden Haken. Nicht ein Stäubchen hatte eine Chance, sich auf die Waffen zu legen. Nicht ein einziger Rostfleck befand sich auf deren Metallflächen. Vor allem aber die Winchester glänzte, wie am ersten Tag der Herstellung. Waffen waren seine absolute Erfüllung.
Nachdem die Besprechung über die Straßenreparatur und deren Finanzierung beendet war, lief Opa Clarence zu seinem Waffenschrank. „Seht Euch meine neue Winchester an. Sie ist schon ganz alt, sieht aber aus, wie am ersten Tag.“ Dann griff er in den Schrank und holte das Prachtstück heraus. Er hielt die Waffe, als wäre sie ein teures Samurai-Schwert. Für ihn war sie ähnlich wertvoll. Sofort wischte er mit einem Mikrofasertuch über das Metall, weil er glaubte, eine Staubflocke entdeckt zu haben. „Hier, sieh sie dir an“, sagte er zu Carla und reichte ihr das Gewehr.
„Sie ist wunderschön“, sagte Carla und nahm sie kurz in die Hand. Sie kannte sich mit Waffen nicht aus, doch sie konnte direkt erkennen, dass das Gewehr wirklich sehr gut gepflegt war. „Sicher putzen Sie die Waffe jeden Tag.“
„Darauf kannst du Gift nehmen“, sagte Clarence stolz und nahm das Gewehr wieder an sich. „Si e schnurrt innerlich wie eine Katze, wenn ich sie putze. Ich kann es bloß nicht mehr hören, ich bin nämlich nicht mehr der Jüngste“, sagte er und streichelte das kalte Metall. „Doch die Waffe“, begann er die nächste Lobesrede“, „…ist älter als ich. Ich schätze, dass sie über hundert Jahre alt ist.“
Zum Unbehagen der Familie hatte er zudem scharfe Munition für das Gewehr gekauft. Im Waffenladen ein paar Straßen weiter konnte man doch tatsächlich für dieses alte Gewehr jegliches Zubehör kaufen.
Carla starrte plötzlich durch den alten Mann hindurch, als würde er gar nicht vor ihr stehen. Sie reagierte nicht
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