Back to Blood
Epoche.
Den Mann gegenüber, den mit dem strubbeligen Haarkranz und dem Gänsehautblick, hatte Sergej ihr als irgendeinen bedeutenden Schachmeister vorgestellt. »Nummer fünf in der Welt, damals zu Zeiten von Michail Tal«, hatte Sergej leise hinter vorgehaltener Hand zu ihr gesagt. Der Name Michail Tal sagte Magdalena gar nichts, der Name des Mannes mit dem chaotischen Haarkranz lautete, wenn sie ihn richtig verstanden hatte, Schytin oder so ähnlich. Die Art, wie er sie anstarrte, verunsicherte sie. Trotzdem konnte sie ihren Blick — wenn auch nur aus den Augenwinkeln — nicht von ihm abwenden. Sie vermied es, ihm direkt ins Gesicht zu schauen. Er sah unheimlich und vulgär aus, fast teuflisch. ::::::Beeil dich, Sergej! Komm zurück! Du hast mich mit diesen gruseligen Gestalten allein gelassen — oder zumindest mit einer. Der ist so gruselig wie eine ganze Geisterbahn.:::::: Seine Ellbogen lagen auf dem Tisch, die Unterarme umrahmten den Teller, und er hatte sich so weit vorgebückt, dass sein Kopf kaum mehr als zehn Zentimeter über dem gewaltigen Berg Essen hing. Er aß alles mit einem Löffel, den er hielt wie eine Schaufel. In atemberaubendem Tempo verschwanden Kartoffelklumpen und irgendeine Art von sehnigem Rindfleisch in seinem gierigen Schlund. Fleischbrocken, die zu groß für den Löffel waren, klaubte er mit den Fingern auf. Während er auf ihnen herumkaute, warf er immer wieder kurze Blicke hierhin und dorthin. Es hatte den Anschein, als wollte er seine Nahrung vor Bussarden, Hunden und Dieben schützen. Hin und wieder hob er den Kopf, setzte ein wissendes Lächeln auf und kippte ungefragt irgendeinen Kommentar — auf Russisch — in eine der Unterhaltungen am Tisch. Kippte war das passende Wort. Sein Russisch klang wie ein Kipplaster, der eine Ladung Kieselsteine abkippte.
Magdalena war fasziniert … viel zu fasziniert. Der ehedem fünftbeste Schachspieler der Welt hob den Kopf, um ordnend in ein Gespräch einzugreifen, und ertappte sie dabei, wie sie ihn anschaute. Den Kopf immer noch tief über sein Essen gebeugt … den Löffel mit einem Riesenbrocken Rindfleisch in der Hand … hielt er inne, überrumpelte sie mit einem breiten spöttischen Lächeln und fragte auf Englisch, mit Akzent, aber fließend, »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein, danke«, sagte Magdalena. Sie wurde knallrot. »Ich habe nur —«
»Was machen Sie?« Das Sie ging zwischen den beiden Fingern verloren, mit denen er beherzt versuchte, eine Rindfleischsehne aus seinen Zähnen zu pulen.
»Machen?«
»Machen«, sagte er und schnippte eine Sehne auf den Boden. »Was machen Sie, um sich Ihr Essen, Ihre Kleidung, Ihr Bett für die Nacht zu verdienen? Was machen Sie?«
Sie hatte keine Ahnung, ob er sich über sie lustig machte … oder einfach nur ungehobelt … oder sonst was war. Sie zögerte … und sagte schließlich, »Ich bin Krankenschwester.«
»Was für eine Krankenschwester?«, sagte die ehemalige Nummer fünf.
Magdalena bemerkte, dass mehrere Leute am Tisch regungslos dasaßen und sie anschauten … der Mann mit dem rasierten Schädel und die Frau neben ihm, die so fett war, dass ihre bombastische Modeschmuckhalskette wie auf einem Tablett flach auf ihrem Mieder lag … und die beiden Frauen mit den Pillbox-Hüten und Haarnetzen, die an längst vergangene Zeiten aus dem letzten Jahrhundert erinnerten. Sie wollten das auch wissen.
»Psychiatrische Krankenschwester«, sagte sie. »Ich habe bei einem Psychiater gearbeitet.«
»Was für eine Art Psychiater? Logotherapeut oder Pillentherapeut?« Magdalena hatte keine Ahnung, was er meinte, aber seine verschlagenen, leicht verzerrten Lippen und die Art, wie er das eine Auge zusammenkniff, ließen sie argwöhnen, dass er nur versuchte, ihre Unwissenheit auf ihrem eigenen Fachgebiet zu entlarven. Sie schaute sich um. Wenn nur Sergej zurückkäme! Mit misstrauischer Stimme sagte sie, »Was ist ein Logotherapeut? Das Wort kenne ich nicht.«
»Sie wissen nicht, was ein Logotherapeut ist.« Das war keine Frage, sondern die Feststellung einer Tatsache. Er hörte sich an wie ein Grundschullehrer. Es sollte so viel heißen wie, »Sie sind eine psychiatrische Krankenschwester — der nicht mal die Grundlagen der Psychiatrie bekannt sind. Nun, ich schlage vor, wir fangen ganz von vorn an.«
»Ein Logotherapeut ›behandelt‹ seine Patienten« — das »behandelt« troff vor Ironie — »im Gespräch … das Ich, das Es, das Über-Ich, der Ödipuskomplex und all
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