Back to Blood
die Hände abgehackt haben, wenn man sie beim Brotstehlen erwischt hat …«
»Okay, okay«, sagte Amélia. »War vielleicht ein bisschen extrem, der Vergleich … aber du weißt, was ich meine …« Gerade als Magdalena etwas sagen wollte, lief ihr ein Schauer durch den Körper. Sie fragte sich, ob Amélia sehen konnte, dass sie zitterte.
Gegen Abend waren Nestor und Ghislaine im Koroljow Museum of Art und studierten eingehend ein etwa neunzig Zentimeter hohes und sechzig Zentimeter breites Gemälde … An der Wand hing ein Schild, auf dem stand, »Wassily Kandinsky, Suprematistische Komposition XXIII, 1919.«
::::::Was zum Teufel soll das denn sein?:::::: fragte sich Nestor. Ein dicker aquamarinblauer Pinselstrich hier unten, fast am Rand, und ein schmalerer Pinselstrich da oben, in Rot … ein blasses Rot, wie bei einem Ziegelstein. Die beiden Linien hatten nichts miteinander zu tun, dazwischen … ein riesiges Knäuel aus dünnen schwarzen Linien, langen, kurzen, geraden, gebogenen, die sich kraftlos, verkrüppelt zu einem verworrenen Gestrüpp verhedderten, die aber die gelegentlichen Zusammenballungen aus Punkten und Klecksen in jeder nur denkbaren Farbe umkurvten, bis sie schließlich doch aufeinanderprallten ::::::Soll das ein Witz sein, auf Kosten dieser ganzen seriösen Leute, die glauben, was für ein großartiges Geschenk der sozial gesinnte Oligarch Sergej Koroljow der Stadt Miami gemacht hat?:::::: Das war so verrückt, dass Nestor sich unwillkürlich zu Ghislaine vorbeugte … und mit gedämpfter Museumsstimme sagte:
»Klasse, was? Sieht aus wie eine Explosion in einem Abwassertank.«
Ghislaine sagte zunächst nichts. Dann beugte sie sich zu Nestor vor und sagte mit andächtiger Stimme, »Nun ja, ich glaube, das hängt nicht deshalb hier, weil sie denken, das könnte jemandem gefallen. Eher weil es so was ist wie ein Meilenstein.«
»Ein Meilenstein? «, sagte Nestor. »Was für eine Art Meilenstein? «
»Ein Meilenstein der Kunstgeschichte«, sagte sie. »Letztes Semester habe ich an der Uni einen Kurs über die Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts belegt. Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch waren die ersten Künstler überhaupt, die abstrakt gemalt haben, und zwar ausschließ lich abstrakt.«
Das war ein Schock für Nestor. Ghislaine hatte ihn, ohne seine Gefühle verletzen zu wollen, auf die ihr eigene milde, liebevolle Art zurechtgewiesen! Genau! Er hatte bei all den vielen Wörtern zwar nicht genau verstanden, wie, aber sie hatte ihn zurechtgewiesen … mit gedämpfter Stimme. Was sollte das überhaupt, dieses ehrfürchtige Geflüster überall? … als ob dieses Koroljow-Museum eine Kirche oder Kapelle wäre. Es waren sicher sechzig oder siebzig Leute in den beiden Räumen. Sie, die Gläubigen, drängten sich vor diesem Gemälde und jenem Gemälde, und sie kommunizierten … kommunizierten mit wem oder was? … mit Wassily Kandinskys aufsteigender Seele? … oder mit der Kunst an sich, der Kunst als dem allein Seligmachenden? …
Das haute Nestor um … Für diese Leute war Kunst wie eine Religion. Der Unterschied war, dass man sich über Religion ungestraft lustig machen konnte … Man musste nur daran denken, wie die Leute mit dem Herrn, dem Erlöser, dem Himmel, der Hölle, der äußersten Finsternis, dem Satan, dem Chor der Engel, dem Fegefeuer, dem Messias, dem Creeping Jesus ihre Späße trieben … allein um des Spaßes willen … Es gab tatsächlich jede Menge Leute, die das alles nicht ernst nehmen konnten … wohingegen man es nicht wagte, sich über Kunst lustig zu machen … das war ein ernsthaftes Thema … wenn man darüber vermeintlich witzige Bemerkungen machte … dann war man offenkundig ein palurdo … ein Einfaltspinsel … eine Dumpfbacke, unfähig, die selbsterniedrigende Plumpheit dieses Sakrilegs zu erkennen … Das war es also! Deshalb war es gar nicht lustig, war es infantil und entsetzlich peinlich, wenn man Kandinskys Suprematistische Komposition XXIII für einen großen, armseligen Witz hielt … deshalb konnte Gislaine, um die Wucht seiner Abgestumpftheit abzumildern, nicht einfach nur ein bisschen harmlos kichern und dann einfach das Thema wechseln … Und das wiederum machte ihm seinen Mangel an Bildung schrecklich bewusst.
Es war nicht so, dass Leute mit Uniabschluss auch nur einen Deut schlauer waren als andere Leute. Er kannte so viele Vollidioten, die einen Doktortitel vor dem Namen hatten, dass er ein Nachschlagewerk mit dem Titel Who’s
Weitere Kostenlose Bücher