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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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Sein langer Schnabel zeigte nach unten. Ein Papagei möglicherweise, oder ein Tukan. Die Augen hielt er geschlossen, als müsste er sich abwenden von dem bedrohlichen Geschehen. Es war, als wäre das Bild ununterbrochen in Bewegung; als wäre der Malprozess mit der Fertigstellung des Werkes nicht abgeschlossen gewesen, und die Gebilde und Gespinste auf der Leinwand würden weiterexistieren, unabhängig vom Maler, unabhängig vom Betrachter, und für alle Zeiten ihre wilde, ungezügelte Existenz feiern, mit allen Sinnen hingegeben dem unentrinnbaren Wechselspiel zwischen Entstehung und Vernichtung.
    Es dauerte ein paar Minuten, bis ich wieder sprechen konnte.
    »Kennst du es?«
    »Willem de Kooning«, sagte Maia. » Ohne Titel . Aus einer späteren Phase, ich schätze, Anfang der Achtzigerjahre. Wenn es tatsächlich das Bild ist, das ich meine, müsste es sich in einer amerikanischen Privatsammlung befinden.«
    »Jetzt nicht mehr.«
    Maia betrachtete das Bild aus der Nähe. »Die Farben sind wie von einem anderen Stern.« Sie seufzte, wandte sich ab und schaute mich an.
    »Ich könnte Tage hier verbringen«, sagte sie.
    »Das wäre nicht sehr klug«, sagte ich. »Wir sollten endlich mit den kleinen Bildern beginnen.« Maia warf mir einen Blick zu, der leicht zu deuten war. Sie sagte aber nicht »Feigling«, sondern nur: »Wenn du meinst.«
    Wir zogen die Plane vom kleineren Stapel. Auch hier waren die Bilder aufrecht gegen das Gitter des Rollwagens gelehnt worden.
    Wir wurden rasch fündig. Es gab nur ein Bild mit vergoldetem Rahmen. Ich schob mit beiden Händen die Gemälde links und rechts davon zur Seite, Maia hob das Bild vorsichtig heraus und lehnte es an die gegenüberliegende Wand. Im Lichtkegel der Taschenlampe sahen wir ein Gesicht, in breiten, kräftigen Strichen auf roten Grund gemalt. Hohe Stirn, dahinter ein dichter Haarschopf. Verwischte Gesichtszüge. Trotzdem: zweifellos Lucian Freud.
    »Alizarin-Karmesinrot«, flüsterte Maia.
    »Wie bitte?«
    »Sein Lieblingsrot. Unverkennbar.«
    »Also ein Original?«
    »Siehst du die parallelen Streifen quer über Nase und Jochbein?«
    Ich nickte.
    »Von einem Fetzen Cordsamt«, sagte Maia. »Einfach auf die noch nasse Farbe gedrückt. Wirkt wie ein Stempel. Oder wie eine Signatur.«
    »Bist du sicher?«
    »Absolut.« Maia legte mir die Hand auf die Schulter. »Ist es nicht wunderschön?«
    Ich betrachtete den nach unten gezogenen Mund des Porträts, die halb geschlossenen Augen. Keine Ahnung, warum ich nicht berührt war. In mir regten sich Zweifel. Wahrscheinlich nur Ausgeburten meiner Querulantenseele.
    »Irgendwas stimmt nicht«, sagte ich.
    »Was denn?«, fragte Maia.
    »Ich bin nicht sicher. Wir müssen das Bild aus dem Rahmen nehmen.«
    »Gut«, sagte Maia, drehte das Bild um, griff in ihre Tasche und holte eine Zange heraus. Während ich den Rahmen festhielt, zog sie die Nägel und die Blendrahmenbleche heraus, mit denen der Keilrahmen am vergoldeten Holzrahmen befestigt war. Ich ließ meine Fingerkuppen über die Oberfläche des Bildes gleiten. Glatt. Zu glatt. Ich war nah dran. Aber ich hatte es noch nicht.
    »Man kann erkennen«, sagte Maia, »wie er den großen Pinsel unter Freuds Stirn um die eigene Achse gedreht hat.«
    Da sah ich etwas. Ich schloss die Augen. Sah Francis Bacon in der schwarzen Lederjacke in seinem Studio in der Reece Mews. Neben ihm Melvyn Bragg. Ich hatte das Interview so oft gesehen, ich konnte es fast nach Belieben abrufen. »It’s there«, sagte Bacon und meinte den Pinselstrich. »Er ist da, und er hält! Von einer imprägnierten Leinwand könnte man ihn herunterwaschen, aber hier …«
    »Es ist eine Fälschung«, sagte ich
    »Woher willst du das wissen?«
    »Von wann, schätzt du, stammt dieses Porträt?«
    »Schwer zu sagen. Nicht vor 1951, klarerweise, aber bis hin zu …«
    »Das reicht schon«, unterbrach ich Maia.
    »Das Bild ist auf die richtige Seite der Leinwand gemalt. Das heißt, auf die falsche.«
    Maia verstand noch immer nicht.
    »Ab 1949 hat Bacon ausschließlich die hintere, unpräparierte Seite der Leinwand verwendet.« Ich drehte das Bild um. Hier müsste man die imprägnierte, weiße Seite sehen, wenn das Bild echt war. Ich wollte Maia triumphierend die unbehandelte Leinwand der Rückseite zeigen, um meine Beweisführung abzuschließen. »Schau«, sagte ich und nahm ihr die Taschenlampe aus der Hand. Der Kegel fiel auf ein Stück Leinwand, imprägniert, blütenweiß. Also musste die Vorderseite doch

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