Bangkok Tattoo
mal eins sechzig groß, hat dunkle, fast schwarze Haut und besitzt die Eindringlichkeit eines Skorpions) mich in strengem Tonfall an, sofort zu Vikorn zu gehen. »Und den nehmen Sie nicht mit«, fügt sie mit einem kurzen Nicken in Richtung Lek hinzu, ohne sich hinter ihrem Schreibtisch zu erheben. In bedeutungsvollem Tonfall sagt sie: »Der Alte schaut sich schon ’ne ganze Weile die Ravi-Bilder an.«
Ich werde blaß, erwidere aber nichts.
Als ich oben an seine Tür klopfe, bellt er: »Was ist?«
»Ich bin’s.«
»Komm rein, aber ein bißchen plötzlich.«
Ich betrete den Raum vorsichtig, für den Fall, daß er mit seiner Pistole herumfuchtelt wie so oft, wenn er wütend ist. Tatsächlich liegt sie auf seinem Schreibtisch, und die Zeichen stehen auf Sturm. Mit einem Blick sehe ich, daß er wieder in der Erinnerungsfalle steckt. Neben der Waffe befindet sich eine fast leere Flasche Mekong-Reiswhiskey, daneben ein großer Plastikwürfel mit Bildern von Vikorns Sohn Ravi in Schlüsselsituationen seines kurzen Lebens. Fotos von Ravis Leiche dominieren die Anordnung.
Alle in District 8 kennen die Geschichte. Keiner von uns ist seinerzeit dabeigewesen, aber jeder hat sie im Detail nacherlebt. Einige wenige Schnappschüsse genügen, um dir, farang, ebenfalls Zugang dazu zu verschaffen:
Foto eins: Ravi als Baby. Vikorn, Ehemann von vier Frauen, Vater von acht Mädchen, hält seinen einzigen Sohn auf dem Arm, als stünde er für die Erkenntnis über die Bedeutung des Lebens.
Foto zwei: Ravi mit fünf Jahren, beim Kindergolfspiel in einem üppigen Garten, daneben der hingerissene Colonel.
Foto drei: Ravi mit sechzehn Jahren. Er besitzt alle Kennzeichen des verzogenen Bengels (verächtliches Lächeln; Gold-Rolex; Yamaha-V-MAX-Motorrad; hübsche Freundin, der er gerade das Leben durch Kokain, Sex und Alkohol verdirbt; der Alte mit breitem Grinsen neben den beiden).
Foto vier: Ravi Anfang Zwanzig mit Gucci-Freizeitkleidung vor seinem scharlachroten Ferrari in Vikorns Anwesen oben in Chiang Mai.
Foto fünf: Ravi, getötet durch einen Schuß in die Brust, das Hemd rot vom hellen Blut aus seiner Lunge.
Die Unruhen im Mai 1992 überraschten alle. Eigentlich sollte die Sache nur wieder ein Militärputsch werden (seit unserer ersten Verfassung aus dem Jahr 1932 haben wir dreizehn erlebt, neun davon erfolgreich), aber die allgemeine Stimmung war umgeschlagen. General Suchinda, unser Premierminister des Monats, wurde auf dem völlig falschen Fuß erwischt, denn das unterdrückte Volk marschiere tatsächlich für Demokratie. Ein paar Kugeln auf Anweisung von ganz oben sollten die Sache wieder ins Lot bringen. Zinna, damals erst Oberst, gehörte zu den Offizieren, die an die Vorbildfunktion des Mannes an der Spitze glaubten. (Vielleicht bezweifelte er, daß seine Kämpen auf ihre Landsleute schießen würden?) Also feuerte er selbst als erster und befahl seinen Untergebenen, es ihm gleichzutun. Fünfzig Menschen starben in dem unbuddhistischen Blutbad. Darauf folgten zuerst Greueltaten und dann ziemlich schnell Demokratie (die Alternative wäre ein Bürgerkrieg gewesen). Ravi hatte offenbar nie vorgehabt, sich den Protesten anzuschließen. Er war einfach gezwungen gewesen, seinen Ferrari zu verlassen, weil die Demonstranten die Straße blockierten. (Bei der Obduktion wurde massenweise weißes Pulver in seiner Nase gefunden; er starb mit einer halbleeren Flasche Johnnie Walker Black Label in der Linken, und der Alkoholpegel in seinem Blut war ziemlich hoch.)
Ravi wurde im Abschlußbericht der Kommission über die Unruhen nicht erwähnt, aber jeder Thai begriff seinerzeit, was bei der Wahl dieses Ziels in Zinnas Gehirn vorgegangen war. Ravi sah wie ein Reichenkind aus, sogar aus der Ferne. Vielleicht ahnte Zinna nicht, wer er war, aber er wußte, wofür er stand, und nach den Regeln des Feudalismus hätte er nicht schießen dürfen. Doch Zinna, ein ehrgeiziger Soldat und Gangster aus einfachen Verhältnissen mit gewaltigem Minderwertigkeitskomplex, sah keinen Grund, diesem arroganten, verzogenen, betrunkenen und mit Drogen vollgepumpten Produkt des Systems, dem er diente, eine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen, und zielte direkt auf ihn. Oder erkannte Zinna den Sohn seines größten Rivalen am Ende gar? Vikorn ist fest davon überzeugt, denn Zinna hatte seine eigene Berufung ins Militär mit Geld aus dem Drogenhandel finanziert. Nur Zinna selbst kann wissen, was er dachte, als er abdrückte, aber es steht fest, daß er
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