Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
unpersönlich eingerichtet und strahlte Kälte aus. Zwei hochlehnige Stühle standen vor dem Schreibtisch aus Kirschholz, hinter dem eine Dame mit strengem Blick saß und Miss Royal Bradford musterte. Sie gab den prüfenden Blick mit Offenheit zurück. Es war nicht leicht, Mrs. Fortescue nach ihrem Alter einzuschätzen. Wahrscheinlich war sie um die Sechzig. Sie war hochgewachsen, derbknochig und hatte das ungepuderte Haar glatt unter eine gestärkte weiße Haube gestrichen. Über den Rand dicker Brillengläser schaute sie nun auf das Buch, das aufgeschlagen vor ihr lag. Mr. Webber hatte Royal gewarnt, daß die Vorsteherin von Pulham School gleich einer Königin über ihre Schutzbefohlenen herrsche. Gewiß hatte er damit nicht unrecht. Jetzt ließ sie die Gäste erst einmal warten, bevor sie den Kopf wieder hob. Der Ausdruck der hellen blauen Augen ließ Royal erschrocken zusammenzucken. Mrs. Fortescue wies auf die beiden Stühle, und die beiden Damen nahmen Platz.
„Ich habe Sie schon erwartet, Royal Bradford“, stellte die Dame mit hörbarer Mißbilligung fest. „Als Schülerin unseres Hauses werden Sie sich pünktlich an alle Zeiten halten, damit man sich in allem auf Sie verlassen kann.“
„Meine Nichte ist erst seit neun Tagen in England“, wandte Arabella Bradford entschlossen ein. „Außerdem war sie nicht vor dieser Woche angemeldet.“
Mrs. Fortescue bedachte die Schauspielerin mit einem kühlen Blick. „Die Woche hat bereits vor zwei Tagen begonnen. Ich habe Miss Bradford am Montag erwartet.“
Die etwas feindselige Bemerkung, die Trauerkleider seien eben nicht früher fertig gewesen, wehrte die Vorsteherin kurz ab. Man duldete keine Ausreden an Fulham School. Royal entschuldigte sich, es werde nicht mehr vorkommen.
Die Antwort klang nicht sehr ermutigend. „Merken Sie sich eines: Unsere Schule besteht seit sehr langer Zeit, und für gewöhnlich nehmen wir nur junge Damen aus den besten Familien an, niemanden aber aus den … Kolonien.“ Sie dehnte das Wort verächtlich.
Royal hob den Kopf. Ihre Augen blitzten, als sie stolz sagte: „Ich brauche mich meiner Familie keineswegs zu schämen.“
Mrs. Fortescue fuhr fort, als hätte sie nichts gehört. „Von unseren fünfundzwanzig Schülerinnen sind nur drei nicht adeliger Herkunft, Sie und die beiden Töchter des Lord Mayors von Edinburgh. Angesichts der Tatsache, daß auch Ihre Mutter bei uns erzogen wurde und Ihr Vormund, Mr. Routhland, ein Mann von hohem Einfluß ist, haben wir Sie einmal probehalber aufgenommen. Verhalten Sie sich möglichst unauffällig, widmen Sie sich Ihren Studien, und es wird Ihnen bei uns gut ergehen.“
Arabella war empört aufgesprungen. „Ich lasse nicht zu, daß man meine Nichte hier herabsetzt und niederredet. Ich nehme Royal gleich wieder mit.“
Mrs. Fortescue schien von dem heftigen Temperamentsausbruch Arabellas kaum berührt. „Das ist unmöglich, Miss Bradford. Mit dem Betreten dieses Hauses ist Ihre Nichte meine Schutzbefohlene geworden, und ich muß Sie bitten, sie in den nächsten drei Monaten nicht zu besuchen. Unsere Erfahrung hat gezeigt, daß sich eine junge Dame leichter hier einlebt, wenn noch so wohlmeinende Verwandte sich nicht einmischen.“
Wieder empörte sich Arabella, senkte aber vor dem unbewegten Blick der Vorsteherin den Kopf. Es führte zu nichts, sich gegen die barbarischen Regeln von Fulham School aufzulehnen.
„Ich versichere Ihnen“, fuhr Mrs. Fortescue fort, „daß Ihre Nichte hier sehr gut aufgehoben ist. Sie wird die feinsten Handarbeiten erlernen, in Mathematik, Geschichte und Geographie unterwiesen werden und Französisch sprechen und Latein lesen, wenn sie uns verläßt. Wenn sich musikalische Anlagen zeigen, werden wir sie fördern, sei es durch die Ausbildung der Gesangstimme oder dem Unterricht an einem Musikinstrument, je nach Eignung. Natürlich folgt sie dem Tanzunterricht und bekommt das Rüstzeug, sich auf dem höchsten gesellschaftlichen Parkett zu bewegen.“
Arabella Bradford war sichtlich niedergeschlagen. Mrs. Fortescue sah die schöne Schauspielerin ruhig an, bevor die sich erhob.
„Ich muß Sie ersuchen, sich jetzt hier und kurz von Ihrer Nichte zu verabschieden. Ihre verspätete Ankunft hat meinen Vormittag schon erheblich durcheinandergebracht.“
Arabella zog ihre Nichte in die Arme und hob ihren Kopf am Kinn leicht an. Mit schreckgeweiteten Augen sah Royal zu ihr auf. „Muß ich wirklich hier bleiben, Tante Arabella?“
Arabella seufzte
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