Barcelona 01 - Der Schatten des Windes
mich so gut wie möglich in den Sessel, fest davon überzeugt, daß ich kein Auge schließen würde. Der Anblick der beiden weißen Särge im Dunkeln schmerzte in meinem Kopf. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich ganz darauf, dieses Bild zu verdrängen. Dafür beschwor ich das Bild der nackten Bea auf den Decken in jenem Badezimmer bei Kerzenlicht herauf. Diesen glücklichen Bildern hingegeben, glaubte ich in der Ferne das Meer murmeln zu hören und fragte mich, ob mich der Schlaf übermannt hatte, ohne daß ich es gemerkt hatte. Vielleicht war ich mit dem Schiff unterwegs nach Tanger. Aber gleich darauf wurde mir klar, daß es nur Fermíns Schnarchen war, und einen Augenblick später erlosch die Welt. Nie in meinem ganzen Leben habe ich besser und tiefer geschlafen als in jener Nacht.
Bei Tagesanbruch goß es wie aus Kübeln, die Straßen waren überschwemmt, und der Regen trommelte wütend an die Fenster. Um halb acht klingelte das Telefon. Mit bis zum Hals schlagendem Herzen sprang ich aus dem Sessel, um abzuheben. Fermín, in Schlafrock und Pantoffeln, und mein Vater, die Kaffeekanne in der Hand, wechselten einen dieser Blicke, die allmählich zur Gewohnheit wurden.
»Bea?« flüsterte ich mit dem Rücken zu den andern in den Hörer.
Ich glaubte einen Seufzer in der Leitung zu vernehmen.
»Bea, bist du es?«
Ich bekam keine Antwort, und einige Sekunden später wurde eingehängt. Eine ganze Minute lang beobachtete ich das Telefon in der Hoffnung, es würde noch einmal klingeln.
»Man wird schon wieder anrufen, Daniel. Und jetzt komm frühstücken«, sagte mein Vater.
Sie wird später noch einmal anrufen, sagte ich mir. Jemand muß sie überrascht haben. Es war wohl nicht leicht, sich über Señor Aguilars Ausgangssperre hinwegzusetzen. Kein Grund zur Panik also. Mit diesem und andern Argumenten schleppte ich mich zum Tisch, wo ich so tat, als leistete ich meinem Vater und Fermín bei ihrem Frühstück Gesellschaft. Vielleicht war es der Regen, aber das Essen hatte jeden Geschmack verloren.
Es schüttete den ganzen Vormittag, und kurz nach dem Öffnen der Buchhandlung suchte uns ein allgemeiner, bis zum Mittag andauernder Stromausfall im ganzen Viertel heim.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, seufzte mein Vater.
Um drei begann das Wasser durchzusickern. Fermín erbot sich, zur Merceditas hinaufzugehen, um ein paar Eimer, Teller oder sonst geeignete Gefäße zu borgen. Mein Vater untersagte es ihm strikt. Die Sintflut hielt an. Um gegen die Beklemmung anzukämpfen, erzählte ich Fermín die Ereignisse der letzten Nacht, behielt aber für mich, was ich in der Krypta gesehen hatte. Er hörte mir fasziniert zu, aber trotz seines ungeheuren Drängens weigerte ich mich, ihm Form und Textur von Beas Busen zu beschreiben. Der Tag löste sich im Regen auf.
Unter dem Vorwand, mir ein wenig die Beine zu vertreten, überließ ich meinen Vater nach dem Abendessen seiner Lektüre und ging zu Beas Haus. Dort angekommen, blieb ich an der Ecke stehen, schaute zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf und fragte mich, was ich hier eigentlich tat. Spionieren, schnüffeln und mich lächerlich machen – das ging mir so etwa durch den Kopf. Aber mit wenig Würde und noch weniger der eisigen Temperatur angemessener Kleidung stellte ich mich auf der andern Straßenseite in einen Hauseingang, um mich vor dem Wind zu schützen, und harrte dort etwa eine halbe Stunde aus. In den Fenstern sah ich die Schatten von Señor Aguilar und seiner Frau vorbeigehen. Von Bea keine Spur.
Es war beinahe Mitternacht, als ich heimkehrte, schlotternd und die ganze Welt auf dem Buckel. Sie wird morgen anrufen, wiederholte ich mir tausendmal, während ich einzuschlafen versuchte. Am nächsten Tag rief sie nicht an. Am darauffolgenden ebensowenig. Die ganze Woche nicht, die längste und letzte meines Lebens.
In sieben Tagen würde ich tot sein.
22
Nur jemand, der noch knapp eine Woche zu leben hat, ist fähig, seine Zeit so zu verschwenden, wie ich es in diesen Tagen tat. Ich lauerte auf einen Anruf und zerquälte mir die Seele, so gefangen in meiner Blindheit, daß ich kaum ahnen konnte, was im Grunde schon eine Selbstverständlichkeit war. Am Montag mittag ging ich in die Philosophische Fakultät auf der Plaza Universidad, um Bea zu sehen. Ich wußte, daß sie es gar nicht lustig finden würde, wenn ich dort aufkreuzte und man uns zusammen sah, aber lieber nahm ich ihren Zorn auf mich, als daß ich in dieser Ungewißheit weiterlebte.
Vor dem
Weitere Kostenlose Bücher