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Barins Dreieck

Barins Dreieck

Titel: Barins Dreieck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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tropfnassem Haar zu und dachte, dass man eigentlich an jedem beliebigen Ort auf der Welt ankommen kann, wenn es so früh am Morgen ist. Dann weckte ich Ewa, und ich erinnere mich an meine Enttäuschung darüber, dass sie es nicht schaffte, aus ihrer eigenen Müdigkeit herauszukommen und diesen ewigen, schnell vorübergehenden Augenblick ebenso stark zu erleben, wie ich es tat.
    Wir suchten unser Hotel, das ein Stück außerhalb des Ortes lag, direkt an einer ziemlich steilen Bergwand und mit einer atemberaubenden Aussicht über die Berge auf der anderen Seite des Tals. Wir checkten ein, Ewa schlief wieder ein und ich auch, jedenfalls nach einer Weile.
    Es war natürlich ein Touristenort, aber in erster Linie winterbetont, und als wir am Nachmittag eine erste Inspektionsrunde machten, stellten wir fest, dass er angenehm spärlich mit Deutschen und lärmenden Amerikanern bestückt war. Wir aßen in einem der drei Gasthöfe, und als wir fertig waren, erklärte Ewa, dass es ihr wirklich wehtue, dass wir nicht weiter zusammen sein könnten. Ich fragte ein wenig sarkastisch, wann denn zu erwarten sei, dass ihr Liebhaber auftauchte, und sie erklärte, dass er bereits an Ort und Stelle sei. In einem kleinen Ort im nächsten Tal, genauer gesagt, und sie hatte versprochen, ihn am nächsten Abend anzurufen.
    Wir bezahlten und gingen zurück zum Hotel. Teilten uns eine Flasche Wein auf unserem Balkon, und während wir dort saßen, ließ sie mich für einige Minuten allein, um unten von der Rezeption aus zu telefonieren. Sie kam bald wieder, und ich spürte, dass sie von so einem verklärten Licht umgeben war, wie ich es ab und zu in unserer allerersten gemeinsamen Zeit bemerkt hatte. Ich goss mehr Wein ins Glas und schwor mir, dass ich es nie, niemals im Leben zulassen würde, dass ein anderer Mann sie bekommen würde.
    Etwas später liebten wir uns. Hart und brutal, wie wir es ab und zu taten, und anschließend, als sie aus dem Badezimmer kam, sagte sie: »Das war das letzte Mal. Ich weiß, dass ich dir wehtue, aber das war das letzte Mal, dass wir uns geliebt haben.«
    »Du gehörst mir, Ewa«, sagte ich, »bilde dir nur nichts anderes ein.«
    Sie gab keine Antwort, und wir lagen ziemlich lange schweigend nebeneinander, bis wir einschliefen. Vielleicht ahnte ich schon da, dass sie wirklich meinte, was sie sagte, und dass ich eigentlich bereits der Verlierer war. Hinterher wusste ich es natürlich, aber es ist nicht unwesentlich, auf welche Art man sich entscheidet zu verlieren.
     
    Nach ungefähr 95 Seiten wurde Reins Text plötzlich deutlicher. An einem dieser grauen Tage mit Nieselregen um den 20. Februar herum übersetzte ich folgendes Stück:

    Rs Besessenheit, dass er mit Gedanken und Worten jede Situation ihres Inhalts, ihrer Faktizität, ihres Wesens entleeren kann, das ist noch nicht einmal alles. Dazu gehört auch, zu erobern und die Wirklichkeit zu bezwingen. Die Entlarvung, die Fähigkeit, sie unter die Feder zu bannen, heißt, sie zu besiegen. M und G. Bis zum letzten Buchstaben beschreiben und bloßlegen zu können, was da vor sich geht, bedeutet, es zum Nichts zu erklären. Das glaubt er, in dieser Raserei macht er sich Tag und Nacht Notizen, mit dieser Waffe verdingt er sich und tötet, tötet und tötet immer wieder, und dennoch stehen sie da. M und G. Sie stehen da, als Ding-für-sich, zwei Dinge, ein Ding, alle Dinge, und diese verfluchte Besessenheit wendet nur den Speer und die Messer gegen seine eigene eingefallene Brust. Sie und er. Er und sie. Er weiß. Sie weiß. G weiß. Er müsste aus seinem eigenen Kopf jetzt heraus. Aus seinem Herzen. Müsste einen Felsen finden, um den Überblick zurückzuerlangen, müsste klar denken können, verstehen, Was wollen sie tun? Wie sehen ihre Pläne aus, was ist das für eine Zukunft, die sie mit dieser unendlich wachsamen Vorsicht herausmeißeln? Plötzlich, eines Abends in Dagoville, erhält seine Angst einen neuen Namen. Einen infernalischen Namen. Er fürchtet um sein Leben. R hat Angst. Er packt die Feder und fängt an zu schreiben, jetzt fängt er ernsthaft an, und diese und die folgenden Nächte ist er in dieser Angst verankert.

    Ich lehnte mich zurück. Schaute mich im Raum um. Nur an zwei anderen Tischen brannte noch Licht, dort saßen die alten, vertrauten Besucher – ein älterer Jude mit weißem Bart und Kalotte, der immer donnerstags und freitags hierher kam und mit einer Art kabbalistischer Texte beschäftigt zu sein schien, sowie eine Frau in den

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