Barins Dreieck
Vierzigern, die hin und wieder aufzutauchen pflegte und sich jedesmal mit schwerem Seufzen über dicke Anatomiebücher beugte.
Vor dem Fenster strömte der Regen herab, aber schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite waren schon die gelben Lampen des Café Vlissingen eingeschaltet. Es war von allen unzähligen Cafés dieser Stadt ausgerechnet das Café Vlissingen, das mein Stammlokal wurde, ich kann nicht sagen, warum. Vermutlich lag es nur an der subtilen Balance einer Reihe von Nichtigkeiten, aber ich wusste, dass das hier meine Heimstatt werden würde, wenn ich einmal dauerhaft in A. wohnen würde. Ich packte meine Sachen zusammen und verließ meinen Arbeitstisch. Meine Gedanken brauchten ein Bier und eine Zigarette, das war deutlich zu spüren, und als ich überlegte, fiel mir ein, dass ich den ganzen Tag über außer der vier Kekse, die meine tägliche Tasse Tee begleiteten, noch nichts gegessen hatte.
R fürchtet?, dachte ich, während ich die Moerkerstraat überquerte. Sie und er? Er und sie?
Und ich hatte urplötzlich das Gefühl, draußen zu sein und auf dünnem Eis zu laufen.
Mariam Kadhar war Kettenraucherin.
Sie war eine dünne, dunkle kleine Frau mit morgenländischen Zügen und einer Sinnlichkeit, die in der Luft zu spüren war. Wahrscheinlich gab sie sich alle Mühe, sie verborgen zu halten. Mit wenig Erfolg, mit oder gegen ihren Willen war sie die Art von Frau, die den Eindruck vermittelt, noch zwanzig Sekunden vor der eigenen Ankunft nackt gewesen zu sein. Und es zwanzig Sekunden, nachdem man gegangen ist, wieder zu sein. Ich stellte mich vor.
»Sie haben angerufen?«
»Ja, ich hoffe, ich komme nicht ungelegen, wie gesagt.«
»Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?«
»Das glaube ich nicht. Ich hätte es bestimmt nicht vergessen.«
Sie nahm die Antwort ohne mit der Wimper zu zucken entgegen und führte mich weiter ins Haus hinein. In einem Raum, der wohl Reins Bibliothek und Arbeitsraum gewesen war, hatte sie ein Tablett mit Portwein, Nüssen und getrockneten Früchten auf einen kleinen rauchfarbenen Glastisch gestellt. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bekleidet, durch ein großes Panoramafenster konnte man auf den überwucherten Garten sehen, der an einem der Kanäle endete. Ich versuchte mich zu orientieren und vermutete, dass es die Prinzengracht sein müsste.
Wir setzten uns, und plötzlich wünschte ich mir, mich ganz woanders zu befinden. Oder zumindest mit jemand anderem hier zu sitzen. Das Gefühl war sehr stark, und ich erinnere mich, dass ich fest die Augen schloss und schnell versuchte, es abzuschütteln, aber ich kann nicht behaupten, dass es mir wirklich gelang.
»Sie haben die Bücher meines Mannes übersetzt?«
»Ja.«
»Welche?«
Ich zählte die Titel auf. Sie nickte ein paar Mal leicht, als erinnerte sie sich wieder an einige, nachdem ich sie jetzt genannt hatte. Als wäre jedes Buch auch ein Teil ihres eigenen Lebens. Und so abwegig war das ja auch nicht.
»Sie waren lange verheiratet?«
»Fünfzehn Jahre.«
Ich räusperte mich.
»Ja, meine Wege haben mich hier vorbeigeführt, wie gesagt. Ich wollte Ihnen gern mein Beileid aussprechen. Ich habe ihn sehr geschätzt ... seine Bücher, meine ich. Wir haben uns ein paar Mal getroffen ...«
Gelaber. Sie nickte wieder und zündete eine neue Zigarette an. Goss sich Portwein ein, wir prosteten uns vage und wortlos zu.
»Er hat einige Male von Ihnen gesprochen«, sagte sie. »Ich glaube, er hat Ihre Übersetzungen geschätzt.«
»Wirklich? Das freut mich ... es muss schwer für Sie sein?«
Sie zögerte einen Augenblick.
»Ja«, sagte sie dann. »Ich denke, es ist schwer. Aber ich habe mich noch nicht daran gewöhnt ... obwohl schon mehrere Monate vergangen sind. Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt daran gewöhnen will. Man muss auch in der Dunkelheit leben können.«
»Ist es schmerzhaft für Sie, von ihm zu sprechen?«
»Ganz und gar nicht. Ich halte ihn auf diese Art am Leben. Ich habe auch mehrere seiner Bücher wieder gelesen. Das ist ... das ist, als hätten sie eine neue Bedeutung bekommen, ich weiß nicht, ob das nur persönlich ist ... weil ich ihm so nahe stand, meine ich.«
Mir wurde klar, dass ein geeigneterer Zeitpunkt vermutlich nicht kommen würde.
»Verzeihen Sie mir meine Frage, aber womit war er beschäftigt, bevor er starb? Ich meine, was hat er geschrieben?«
»Warum fragen Sie das?«
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte unschuldig zu
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