Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
davor stand. Wenn er die Tür anfasste, würde er verbrennen. Ungeschützt konnte er nicht weiter, und um sich zu schützen, brauchte er einen Kreis, eine Beschwörung, sorgfältige Vorbereitung…
Dazu hatte er keine Zeit. Jetzt war er wirklich hilflos! Zur Untätigkeit verdammt! Er schlug mit der Faust gegen die Wand. Von weither ertönte ein Laut, der wie ein Angstschrei klang.
Nathanael rannte die Treppe wieder hoch und hörte schon unterwegs, wie die Esszimmertür aufging und Schritte durch die Diele hallten.
Da kamen sie.
Als Nächstes war Mrs Underwoods Stimme zu hören, und sie klang so ängstlich, dass es Nathanael einen heftigen Stich gab: »Alles in Ordnung, Arthur?«
Die Antwort kam schleppend, dumpf, war kaum zu verstehen. »Danke, wir brauchen nichts. Ich will Mr Lovelace nur etwas in meinem Arbeitszimmer zeigen.«
Jetzt stiegen sie die Treppe herauf. Nathanael war vor Unentschlossenheit wie gelähmt. Was nun? Als der Erste schon um die Ecke bog, huschte er durch die nächste Tür, schloss sie bis auf einen kleinen Spalt und spähte mit einem Auge auf den Treppenabsatz. Eine kleine Prozession zog vorüber. An der Spitze ging Mr Underwood. Sein Haar und seine Kleidung waren unordentlich, sein Blick war verstört, sein Rücken gebeugt wie unter einer schweren Last. Hinter Underwood ging Simon Lovelace, die Augen hinter der Brille verborgen, der Mund ein schmaler, grimmiger Strich. Und hinter Lovelace wiederum krabbelte, immer schön an der Wand entlang, eine Spinne.
Die Prozession verschwand in Richtung Arbeitszimmer. Nathanael taumelte zurück. Vor seinen Augen drehte sich alles und ihm war übel vor Angst und Schuldgefühl. Underwoods Gesicht… Obwohl er seinen Meister gründlich verabscheute, sträubte sich alles in ihm dagegen, den alten Mann in diesem Zustand zu sehen. Gewiss, er war schwach und engstirnig und behandelte Nathanael immer noch wie einen Dummkopf, aber immerhin war er ein Regierungsmitglied, einer von dreihundert amtierenden Ministern, und nicht er hatte das Amulett gestohlen, sondern Nathanael.
Er biss sich auf die Unterlippe. Lovelace, diesem Verbrecher, war alles zuzutrauen. Andererseits: Sollte er doch Underwood die Schuld an dem Diebstahl geben, der Alte hatte es nicht besser verdient. Nie hatte er sich für Nathanael eingesetzt, er hatte Miss Lutyens entlassen… sollte er doch auch einmal leiden! Hatte Nathanael das Amulett nicht überhaupt deshalb in Underwoods Arbeitszimmer versteckt, damit er selbst über jeden Verdacht erhaben war, falls ihm Lovelace auf die Schliche käme? Er würde sich heraushalten, wie ihm der Dschinn geraten hatte. Und wenn es sein musste, auch weglaufen…
Nathanael stützte kraftlos den Kopf in die Hände.
Er konnte nicht weglaufen. Er konnte sich nicht verstecken. Das waren die Ratschläge eines Dämons, eines heimtückischen, durchtriebenen Dämons. Ein rechtschaffener Zauberer tat so etwas nicht. Wie könnte er sich selbst je wieder in die Augen sehen, wenn er seinen Meister Lovelace auslieferte? Und noch etwas: Wenn sein Meister leiden musste, dann litt auch Mrs Underwood, und das konnte Nathanael nicht zulassen. Nein, es half nichts. Zu seiner eigenen Überraschung – und zu seinem Entsetzen – kam Nathanael zu dem Schluss, dass er jetzt, da die Katastrophe unmittelbar bevorstand, handeln musste. Er musste eingreifen, egal was dann passierte.
Wenn er sich ausmalte, was er vorhatte, wurde ihm ganz flau im Magen. Trotzdem schaffte er es Schritt für Schritt durch die Tür, über den Treppenabsatz und die Treppe zum Arbeitszimmer hinunter… immer eine Stufe nach der anderen…
Bei jedem Schritt begehrte sein gesunder Menschenverstand energisch auf und empfahl ihm dringend, sofort kehrtzumachen und das Weite zu suchen, doch Nathanael ließ sich nicht beirren. Wegzulaufen hätte bedeutet, Mrs Underwood im Stich zu lassen. Komme was da wolle, er würde jetzt ins Arbeitszimmer gehen und alles zugeben.
Die Tür stand offen, der Feuerzauber war deaktiviert. Warmes Licht fiel ins Treppenhaus.
Nathanael blieb an der Schwelle stehen. Er konnte nicht mehr klar denken. Er wusste gar nicht richtig, was er tat.
Er drückte die Tür ganz auf, trat ein und kam gerade rechtzeitig, um mit anzusehen, wie Lovelace das Amulett entdeckte.
Lovelace und Underwood standen mit dem Rücken zu ihm vor einem weit geöffneten Wandschrank. Wie eine Katze auf Mäusejagd reckte Lovelace gespannt den Hals. Dann steckte er die Hand in den Schrank, warf etwas um
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