Bauernjagd
Motor ab.
»Emma, bleib einen Moment im Wagen sitzen, ja? Ich komme gleich
wieder.«
Sie stieg aus und umrundete den Laster. Es sah aus, als wäre die
Milch bereits abgetankt worden.
»Marita? Bist du hier irgendwo?«
Keiner antwortete. Die Tür zur Melkkammer war geschlossen.
Vorsichtig öffnete Annika sie. Mitten im Raum stand der Milchtank. Das Licht
war gelöscht, die Milch war tatsächlich abgepumpt.
»Marita! Wo bist du?«
»Was schreist du denn so?«
Sie wirbelte herum. Ihre Schwester war wie aus dem Nichts
aufgetaucht. Hinter ihr der Mitarbeiter der Molkerei, ein hochgewachsener Mann
mit breitem Kreuz und Blaumann. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand und hielt
es Marita hin.
»Du musst hier noch unterschreiben.«
Sie nahm seinen Kugelschreiber und kritzelte ihren Namen an das Ende
einer Zeile.
»Also gut, Elmar, dann bis übermorgen.«
»Bis übermorgen.« Er hob die Hand zum Gruß und nickte Annika knapp
zu. Dann stieg er in sein Führerhaus.
»Alles in Ordnung?«, wollte Marita wissen.
Annika fragte sich, was ihre Schwester da wohl unterschrieben hatte.
»Ja klar. Alles in Ordnung.« Sie deutete zum Hof. »Wir sind wieder
da. Ich bringe Emma mal besser ins Haus. Vielleicht kann Mutter auf sie
aufpassen. Ich würde jetzt gern nach Münster fahren und Clemens im Krankenhaus
besuchen.«
»Es ist keiner da. Mutter ist zum Einkaufen nach Altenberge
gefahren, und Tante Ada ist bei Hedwig Tönnes.«
»Bei Hedwig Tönnes? Was macht sie denn da?«
»Keine Ahnung. Wollte sie nicht sagen.«
»Sie wird doch nicht auf die Idee gekommen sein, Hedwig in ihrer
Trauer beistehen zu wollen?«
Marita lachte. »Das wollen wir nicht hoffen. Die arme Hedwig hat
schließlich schon genug gelitten.« Sie kratzte sich am Kopf. »Vielleicht kannst
du mit deinem Besuch bei Clemens bis heute Nachmittag warten? Und so lange auf
Emma aufpassen?«
»Na klar. Kein Problem.«
Annika ging zum Auto zurück. Der silbern glänzende Tank des Lasters
verschwand gerade hinter der Scheune. Eine Abgaswolke puffte noch in ihr
Blickfeld, dann löste auch die sich in nichts auf. Annika ging zur Autotür und
öffnete sie, um Emma herauszulassen. Zu ihrer Überraschung nahm die aber gar
keine Notiz von ihr. Sie saß auf ihrem Kindersitz und blickte ebenfalls dem
Laster nach. Dabei schien sie angestrengt über etwas nachzudenken, die Stirn
hatte sie in tiefe Falten gelegt.
Hedwig Tönnes hatte ihre Fenster nicht geputzt, das merkte
Ada sofort. Nun ja, man musste es ihr nachsehen. Bestimmt war es keine leichte
Zeit für sie. Sie drückte den Klingelknopf, irgendwo im Haus ertönte ein
schrilles Bimmeln. Es dauerte, bis Hedwig Tönnes die Eichentür aufzog und durch
den Spalt blickte.
Sie sah furchtbar aus. Ihr verbittertes Gesicht war schmutzig und
aufgequollen, die dünnen Haare standen ungekämmt vom Kopf ab.
»Was willst du hier?«, bellte sie.
»Sehen, wie du zurechtkommst.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht!«
»Mensch, Hedwig, wir sind Nachbarn. Nun hab dich nicht so. Ich will
mich nur vergewissern, dass es dir gut geht. Vielleicht kann ich dir bei etwas
behilflich sein.«
Sie streckte ihren Kopf aus der Tür heraus.
»Denkst du, ich trauere?«
Ihre Stimme war schrill. Ada machte einen Schritt zurück.
»Ich bin froh, dass ich diesen Nichtsnutz los bin! Diesen Tölpel!
Ich hoffe, er brennt in der Hölle.«
»Hedwig! Wie redest du denn!«
»Schockiert dich das etwa?«
Ihr Auflachen ging in ein Husten über.
»Du stehst offenbar unter Schock«, sagte Ada. »Sonst würdest du
nicht so reden. Lass dir doch helfen.«
»Deswegen bist du also gekommen. Die arme Hedwig, kommt nicht
alleine klar. Da muss man hin, egal, ob man sie ausstehen kann oder nicht.
Einfach nur, damit man sich über sie erheben kann. So ist es doch, oder?«
Ada wurde wütend. »Ich stehe hier für einen Nachbarn ein, wie es
sich gehört. Es gibt keinen Grund, mich deshalb so anzugehen.«
Hedwig Tönnes verzog die Mundwinkel. »Steck deine Bibel wieder ein,
und deinen Rosenkranz dazu. Ich brauche dich nicht.«
Mit diesen Worten knallte sie die Tür zu. Ada zuckte zusammen.
Hedwig hatte sie nicht einmal hineingebeten.
Unschlüssig blieb Ada vor der Tür stehen. Sie war gekommen, um herauszufinden,
was Hedwig über den Tod ihres Mannes dachte. Hielt sie ihn für einen Unfall
oder für Mord? Hatte Hedwig vielleicht sogar einen konkreten Verdacht? Doch
ihre Nachbarin hatte sie abgewimmelt wie einen Staubsaugervertreter.
Es blieb ihr nichts übrig, als
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