Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
Eingang. Niemand zu sehen. Zudem befand sich kein Fenster an der Stirnwand zu den Büros, aus denen man ihn hätte beobachten können. So beschloss er, sich trotz seiner Angst weiter umzugucken. Vorsichtig packte er wahllos einzelne Früchte und Gemüse in den Rucksack und wagte dann den Wechsel von einem Gestell zum nächsten, bis er endlich die Tiefkühlschleuse erreichte. Er zögerte erneut, rang mit seiner mitteleuropäischen Wohlstandsfeigheit, doch dann siegte der Reporter.
Drinnen herrschte sibirische Kälte, in der das Fleisch die Wände entlang in Regalen bis zur Decke gestapelt war. Das Kühlhaus schien nur für zerlegte und fertig verpackte Teile genutzt zu werden, da jedes Stück seinen genau bezeichneten Platz hatte. Links Rindfleisch, die Fächer nach den einzelnen Körperteilen sortiert, rechts Schwein und weiter hinten Geflügel und Lamm. In der Mitte stand die soeben gelieferte Charge, noch unsortiert. Brünjes trat näher und beugte sich im funzeligen Licht der einzigen Lampe vor. Rind. Er griff nach einem der Pakete, als er eine Bewegung wahrnahm. Eine Person tauchte schemenhaft vor den milchigen Kunststoffbahnen auf, die ein Entweichen der Kälte vermeiden sollten. Stumm verfluchte er seine Neugierde und verdrückte sich ein zweites Mal an diesem Tag. Das Kühlhaus bot ausreichend Gelegenheit, da die Regale in den Ecken tiefe Schatten warfen.
Der Mann, der eintrat, trug einen dicken Parka und hatte einen Stapel Etiketten unter den Arm geklemmt, den er nun ablegte. Brünjes erkannte sofort, dass er nicht zu den Arbeitern gehörte, es sei denn, diese kämen mit rahmengenähten Schuhen und Krawatte zur Arbeit. Der dunkelhaarige Typ wusste allerdings genau, was er tat, und verlor keine Zeit. Er ging zügig vor, doch zu langsam für Brünjes, dem immer kälter wurde, während der Mann mit geübten Bewegungen die Etiketten von den Verpackungen der neuen Ware riss und in eine Tüte steckte. Anschließend klebte er andere auf. Eins blieb jedoch übrig. Brünjes blickte auf das Päckchen in seinen Händen und die Panik kroch in ihm hoch.
»Verdammt.« Das Wort war nur ein Raunen, dann ein Blick auf die Uhr. In den glattrasierten Zügen zeigten sich leichte Anzeichen von Stress. Eilig umrundete er die Palette, um nachzusehen, ob er nicht ein Paket übersehen hatte. Er erweiterte den Suchradius und durchforstete schnell das Regal für Rindfleisch. Von Fach zu Fach huschten seine Augen, doch reichte seine Zeit nicht mehr. Eine Tür krachte gegen eine Wand und dem Gemurmel zufolge kamen die Arbeiter zurück. Mit verärgertem Gesicht wandte er sich um und ließ die alten und das eine überschüssige Etikett unter dem Parka verschwinden. Eine Sekunde Konzentration, die Miene wechselte auf Chef und er trat nach draußen. »Heinrich! Räumen Sie die neue Lieferung weg.«
»Ist in Ordnung, Herr Ressler.«
Brünjes kroch zitternd und mit steifen Gliedern aus seinem Versteck, riss vorsichtig den Aufkleber von dem Paket in seinen klammen Fingern und zog einen der soeben aufgeklebten ab. Gerade als er beides in seinem Rucksack verstaut hatte, hörte er hinter sich eine Stimme drohend laut werden: »Die Sau will hier Fleisch klauen!«
Brünjes rannte den Mann einfach um, nutzte das Überraschungsmoment, rammte seine Schulter vor eine Brust und stolperte hinaus, als kräftige Hände schon seinen Arm packten. Er schlug zu, schlug zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben eine Person nieder. Seine Faust traf ungeübt geschwungen das unrasierte Kinn eines schmächtigen Männleins, das erstaunt die hinter dicken Gläsern unnatürlich vergrößerten Augen verdrehte und zu Boden ging. Raus über die Rampe kam er problemlos und steuerte rennend das Tor an. Eine Meute wütend schreiender Arbeiter stürmte ihm nach. Sie würden ihn verprügeln, nachdem er einen von ihnen niedergestreckt hatte, da bestand kein Zweifel, doch Angst machte ihm der Blick des Krawattenträgers, der aus dem Eckbüro hinunterschaute und sofort gewusst hatte, was gespielt wurde. Er trieb die Männer an, die Augen fest auf ihn gerichtet. Augen, die keine Kompromisse, keine Interpretationen zuließen.
Irgendwie kam Brünjes vor den anderen über das Tor und erreichte den Wagen, ohne eingeholt zu werden. Gott sei Dank unabgeschlossen sprang er schnell hinein und verriegelte die Türen. Der Motor jaulte auf, als die Fäuste auf das Dach krachten und verzerrte Gesichter zu den Fenstern hineinschrien wie irrlichternde Fratzen. Er gab Gas und die Männer
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