Beast
infrage.
Ich könnte mich einfach nicht mehr drum kümmern, oder? Ich könnte hier verschwinden und nie mehr zurückkommen. Ich könnte mich heimlich, still und leise aus |150| dem Staub machen und mich hier nie mehr blicken lassen.
Aber so läuft es im Leben nun mal nicht, stimmt’s? Andauernd passiert irgendwas Unvorhergesehenes, bis man irgendwann stirbt.
Als ich aus dem Zimmer gehe, weil ich pinkeln muss, kommt Carol die Treppe hoch. Sie hat ein Schulbuch in der Hand.
»Worin unterscheiden sich Krokodile von Alligatoren?«, fragt sie mich.
Langes Schweigen.
»Was?« Ich muss mich am Geländer festhalten.
»Krokodile – Alligatoren. Was ist der Unterschied?«
Sie schaut mich ganz ernst an.
»Wieso?«
»Brauch ich für die Schule. Ich dachte, du weißt es vielleicht.«
»Wie kommst du denn darauf?« Ich dränge mich an ihr vorbei und schließe mich im Bad ein. Ich setze mich aufs Klo und schlage die Hände vors Gesicht.
Was weiß sie?
Ich greife nach einer Shampooflasche und lese das Etikett.
Macht Ihr Haar geschmeidig und leichter frisierbar.
Wen interessiert so ein Scheiß? Es kommt mir total absurd vor. Alles hier drin ist absurd und sinnlos. Die Badematte, die Seife. Der gewellte Kalender, der zwei Monate hinterherhinkt. Das ist alles so sinnlos, so unbedeutend, verglichen mit der Tatsache, dass draußen, nur ein paar Kilometer von hier, ein Killerkrokodil umherstreift.
Ein Krokodilmaul verjüngt sich vorn, Alligatoren haben |151| runde, stumpfe Schnauzen und leben in kälteren Gegenden, zum Beispiel in Nordamerika. Eigentlich müsste mein Kleiner längst eingegangen sein. Hier ist es viel zu kalt für ihn. Aber er lebt trotzdem noch.
Krokodile können nicht kauen. Sie sind einfach nicht dafür geschaffen. Darum packen sie einen, drehen sich um sich selber und schleudern einen so lange herum, bis man durchreißt. Todesrolle nennt man das. Dann schlingen sie ihr Opfer ohne zu kauen runter. Also nicht so wie Haie und Löwen, die Brocken aus ihrer Beute herausbeißen.
Ein Krokodil reißt einen buchstäblich in Stücke.
Mitten in der Nacht wache ich angstschlotternd auf. Ich will dich nicht mit meinen Albträumen anöden. Dafür habe ich zu oft welche. Ich mache die Augen wieder zu und sinke in den nächsten.
|152| Sechzehn
Ich liege im Bett. Vor die Tür habe ich eine Kommode geschoben. Ich will nicht, dass jemand reinkommt. Dafür bin ich zu fertig mit den Nerven. Seit dem Frühstück liege ich schon drei Stunden hier und mache gar nichts. Außer grübeln. Wenn mein Kleiner entdeckt wird, kann sich der Typ von der Wasserbehörde zusammenreimen, wo sein Zahn herkommt. Hätte ich ihn bloß nicht darauf angesprochen! Er erinnert sich hundertprozentig an mich.
Mir fällt nichts ein, was ich tun könnte. Er ist viel zu groß und zu gefährlich, um ihn einzufangen. Aber soll ich einfach hier liegen bleiben und abwarten, bis er jemanden umbringt? Soll ich Dad noch mal bitten, mir eine Knarre zu besorgen? Es ist sowieso seine Schuld, dass das Vieh ausgebrochen ist. Aber wie kann ich nah genug an ihn rankommen, ohne mich selber zu gefährden? Wie soll ich ihn erschießen, ohne dass es auffällt? Und was mache ich hinterher mit ihm? Das sind keine neuen Überlegungen. Ich habe oft genug darüber nachgedacht, was ich mit ihm machen soll, schon bevor er überhaupt ausgebrochen ist. Aber mir ist nie eine überzeugende Lösung eingefallen. Bis auf die Knarre.
Erinnerst du dich noch an Nummer zehn auf meiner Liste? Mord. Denn das wäre es.
|153| Ich ziehe mir das Kissen über den Kopf. So ist es angenehm. Schön dunkel. Man hört überhaupt nichts. Es ist warm. Mein Gesicht wird ganz heiß.
Etwas zerreißt die Stille und ich fahre erschrocken zusammen, spüre einen Stich im Magen.
»Stephen, Telefon!«, ruft Carol. Ich setze mich auf. Mir ist schwindlig. Ich schiebe die Kommode so weit zur Seite, dass ich mich durchquetschen kann. Dann gehe ich ganz lässig nach unten, als ob nichts wäre. Das Telefon steht in der Küche. Dort hält sich auch der Großteil der Familie auf, denn da stehen auch ein kleiner Fernseher und der Kühlschrank. Das bedeutet, dass jeder alles mithört. Andererseits rufe ich sowieso nie jemanden an. Ich bin vermutlich der einzige Siebzehnjährige der Welt, der kein Handy besitzt. Wozu auch? Wen soll ich schon anrufen?
»Hallo, Stephen.« Eine scheußlich heisere Stimme.
Der alte Drecksack lebt also noch.
»Was willst du?« Irgendwie bin ich froh, ihn zu hören. Ich drehe mich
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