Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen
werden zum Brunchen zu uns rüberkommen und fragen, wie es mir in Paris geht. Meine Eltern werden antworten, dass es mir sehr gut geht. Dabei wissen sie eigentlich gar nicht genau, was sie darauf sagen sollen, denn welches Kind geht bitte schön mit sechzehn so weit von der Familie fort, um in Paris zu wohnen? Welches Kind kommt nicht über Weihnachten heim und wünscht sich - insgeheim - sogar, dass es überhaupt nie wieder zurückmuss?
Da fällt mir ein noch schlimmeres Szenario ein: dass die ganze Familie das schönste und spirituellste Weihnachten seit jeher verlebt, und zwar genau weil ich nicht da bin. Weil ich es mit meinen langen Haaren, meiner »spinnerten« Kleidung (wie mein Dad immer sagt) und meiner ablehnenden Haltung gegenüber der Baptisten-Kirche, der Bibel und allem anderen, was in Germantown zu Weihnachten dazugehört, nicht verderben kann. Vielleicht bekommen sie nun endlich, was sie wollen: die perfekte christliche Familie.
In der Zimmerecke rasselt der Heizkörper wirkungslos vor sich hin, so wie nun schon jeden Morgen seit dem Wintereinbruch. Es klingt fast wie Glockenläuten und erinnert mich daran, dass das Leben an mir vorbeizieht. Ich bin nach Paris gekommen, um mich selbst und die Liebe zu finden. Aber so wie es ausieht, ist alles, was ich gefunden habe, Einsamkeit.
Seit drei Wochen hat Pierson sich nun schon nicht mehr gemeldet. Er ist zu sehr mit seinem neuen Freund beschäftigt. Früher konnte ich manchmal an so ruhigen Vormittagen wie diesem stundenlang mit ihm in Amsterdam chatten. Wir haben uns über unsere Erfahrungen in Europa ausgetauscht. Aber das ist nun vorbei.
Der Brief aus dem Lycee kam gestern Morgen. Ich habe im Final Comp eine Zwei. Dass ich einiges nicht richtig beantwortet habe, schiebe ich darauf, dass ich so viel Zeit mit Alex verplempert habe. Wie oft sind wir im Jardin de Tuileries herumgeschlendert, abends etwas trinken gegangen, weil wir das hier dürfen, und haben uns französische Filme im Original ohne Untertitel angesehen, von denen wir dann den Großteil nicht verstanden haben, weil ich die Dialoge, die ich mitbekommen habe, Alex im Dunkeln erklären musste.
Hoffentlich hat Jay eine Eins im Test, damit sein Stipendium weiterläuft.
Ich werfe mich bäuchlings auf das Bett und gehe in meinem Handy die Kontaktliste durch. Vielleicht kann ich ja Olivia anrufen und ihr frohe Weihnachten wünschen. Aber bevor ich bei ihrem Namen angelangt bin, bleibe ich bei Jay hängen und schaue sehnsüchtig auf seine Nummer. Wenn ich doch nur mutiger wäre, dann würde ich ihn einfach anrufen!
»Hey, Jay«, würde ich ganz lässig sagen. »Hast du gehört, was Alex im McDonald's in Lyon Seltsames gesagt hat? Sie hat recht: Ich bin schwul. Und was noch wichtiger ist: Ich finde dich so toll, wie noch niemanden zuvor. Hast du Lust rüberzukommen?«
Ha.
Noch während ich auf das Display starre, beginnt das Handy zu vibrieren. Ein Anruf! Verwirrt sehe ich Jays Namen aufleuchten und überlege, ob ich ihn aus Versehen angerufen habe und nun wegdrücken soll. Aber nein! Er ruft mich an!
»Hey, Jay«, sage ich lässig - oder zumindest so lässig, wie es mir unter diesen Umständen möglich ist. »Was geht?«
»Zack!«, sagt er. »Oh Mann, bin ich froh, dass du da bist. Hör mal, ich muss mit dir reden. Kannst du in einer halben Stunde am Parc de Monceau sein?«
»Am Parc de Monceau?«, frage ich perplex. Weder Jay noch ich wohnen im 17. Arrondissement.
»Ich erklär's dir, wenn du da bist«, sagt Jay gehetzt. »Wir treffen uns an der Kolonnade.«
Rasch ziehe ich mich an, wobei ich meine Kleidung sorgfältig auswähle: ein hellblaues eng geschnittenes, geknöpftes Hemd und dazu eine locker sitzende True-Religion-Jeans mit einem breiten Gürtel im Militärmuster. Die Schiebermütze und meine lange Wolljacke werden mich warm halten, aber in letzter Minute schnappe ich mir noch den Kaschmirschal, den Alex mir in der Galeries Lafayette gekauft hat. Damals fand ich, dass er etwas zu schwul aussieht, um ihn in der Schule zu tragen, aber heute macht er sich richtig gut an meinem Hals.
Bei der Colonnade de Naumachie handelt es sich um einen Halbkreis bröckelnder Steinminen rings um einen kleinen trüben Teich in der nordöstlichen Ecke des Parc de Monceau. Die Wasseroberfläche ist mit einer dicken Laubschicht bedeckt. Als ich dort hinkomme, läuft Jay bereits auf dem Weg, der an der Ruine entlangführt, unruhig hin und her. Er wirkt besorgt.
»Hey, Mann«, sage ich
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