Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen
Montmartre-Hügel, den die Sacre Coeur an diesem nebligen Abend krönte wie ein weißer Stern, erhebt sich direkt hinter der sicheren und friedlichen Wohngegend der Marquets. Nachdenklich aß ich - vorsichtig, damit ich nicht auf den Teppich krümelte - und sinnierte über das seltsame achterbahnmäßige Auf und Ab der letzten Monate. Als ich fertig war, benutzte ich Zahnseide und putzte mir die Zähne - dann lag ich mehrere Stunden hellwach im Bett.
So allein hatte ich mich noch nie gefühlt.
Der Zug ist gerammelt voll mit Wochenendausflüglern, aber mein Sitznachbar ist schon in Poitiers ausgestiegen. Familien und Pärchen drängeln sich um mich herum, ganz unruhig vor Freude auf das bevorstehende Wochenende, während der Zug durch die Täler und Hügel in Südfrankreich tuckert. Die Atmosphäre ist freundlich, aber ich fühle mich trotzdem wie aus einer anderen Welt.
Ich schlage mein Notizbuch auf und denke (wie so oft in den letzten Wochen) an Annabel. Ich weiß, dass meine Schwester diesen Brief nie erhalten wird, aber ich schreibe ihn ihr trotzdem.
Liebe Annabel,
Du würdest es nicht glauben, wenn Du mich jetzt sehen könntest. Du wärst so stolz auf mich. Die Marquets kennen mich kaum, und doch wollen sie schon, dass ich sie in ihrem Landhaus besuche.
Du bist der einzige Mensch, der verstehen könnte, wie sehr ich mir das gewünscht habe. Wie wichtig es mir ist, dass sie mich mögen und mich nicht nur fragen, ob ich an den Wochenenden kommen, sondern auch über die Winterferien hierbleiben will, sodass ich in der nächsten Zeit nicht nach Vermont muss. Das war die einzige Schwachstelle in meinem Plan, das Einzige, woran ich erst gedacht habe, als ich in den Flieger gestiegen bin. Im Programm heißt es ausdrücklich, dass alle Schüler ihre Gastfamilien während der dreiwöchigen Winterferien verlassen müssen, sofern sie von ihren französischen Familien nicht offiziell zu den Feiertagen eingeladen werden. Ich habe also nur drei Monate Zeit, um mir diese Einladung zu sichern. Nur drei Monate Zeit, um mein Schicksal zu sichern.
Mal abgesehen von den Dingen, die ich Annabel gern über mein neues Leben in Frankreich erzählen würde, habe ich natürlich eine Million Fragen, die ich ihr in Bezug auf ihres stellen würde. Meine Schwester war schon immer ein Rätsel, aber jetzt, nach dieser langen Trennung, ist sie für mich ein totales Mysterium. Immer, wenn ich sie vor meinem geistigen Auge sehe, rennt sie gerade und ihre Haare wehen wie ein dunkler Schweif hinter ihr her. Da sie noch längere Beine hat als ich, konnte ich nie mit ihr Schritt halten.
Ich liebe Züge. Ich wünschte, wir würden in den USA mehr Zug fahren. Es ist traumhaft, in einem Zug zu sitzen und aus dem Fenster zu schauen. Selbst Einsamkeit und Melancholie wirken in einem Zug, der pfeifend im Dunkeln durch die französische Landschaft fährt, tröstlich und beruhigend.
Wo bist du da draußen, Annabel?, frage ich mein schwach erleuchtetes Spiegelbild im Fenster. Werde* ich dich jemals Wiedersehen?
Ganz plötzlich muss ich an Jay denken - wie er meine Kaffeegewohnheiten registriert hat und dass er mit mir zusammen an dem Louvre-Projekt arbeiten will. Ich verpasse unsere Lernverabredung! Und auch die Party bei Sara-Louise!
Oh nein, denke ich einen Augenblick lang verzweifelt. Doch dann verdränge ich alle Gedanken an Jay. Damit werde ich mich später beschäftigen. Nichts ist wichtiger als dieser Ausflug.
In Perigueux wartet ein quietschvergnügter M. Marquet auf mich. Er hebt mich hoch und wirbelt mich herum, als wäre ich ein kleines Mädchen. Ich lache, aber zu laut.
»Äh, ich hätte ja Charles geschickt - das ist der Hausmeister und Verwalter, der sich um die Tiere und den Garten kümmert -, aber ich wollte, dass du dich willkommen fühlst, wie zu Hause«, erzählt mir M. Marquet, als wir die gewundenen Straßen entlangkurven, die zu ihrem Anwesen führen. »Marie, die Haushälterin hier, wird dir Abendessen machen, und morgen früh führen Mme. Marquet und ich dich herum. Es ist etwas ganz Besonderes. Dieser Grund und Boden gehört meiner Familie schon seit Urzeiten.«
Das Chateau ist wirklich etwas ganz Besonderes. Es ist so düster, wie ich es mir eher in einer alten Burg vorstelle, und knarrt und ächzt in der windigen Nacht. Ich schlafe augenblicklich in dem riesigen Federbett ein, in das ich geschickt werde, nachdem ich im großen Esszimmer gebratene Wachtel mit haricots verts, grünen Bohnen, gegessen habe.
Adrett mit
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