Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
Hände. Ich wusste, dass ich es schaffe!
»Bon!«, ruft er. »Und jetzt Plié. Auf volle acht Counts. In einer fließenden Bewegung und lasst ja das Bein nicht fallen.«
Ich beuge das Knie, in derselben Geschwindigkeit wie André, sodass ich tiefer gehe und noch näher zum Boden komme. Er hat eine erstaunliche Kraft in den Beinen. In seinem Gesicht zeigt sich weder die Anstrengung, noch dass beinahe genauso viele Schweißperlen über sein dunkelhäutiges Gesicht laufen wie über meInès. »Und jetzt rollt euch auf dem Boden zu einer Kugel zusammen, macht euch so klein ihr könnt«, ruft Henri uns zu und zählt den Takt, indem er laut mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel klatscht. »Noch kleiner, noch kleiner!«
Nach stundenlanger Probe ohne Musik, während nur Henri den Takt vorgibt, schreitet eine auffällige Frau mit einem langen bunten Kleid, Kopftuch und einer würdevollen Aura durch die Tür ins Studio. Das muss die Sängerin sein, die unseren Tanz musikalisch begleitet.
»Bonjour, Kiki.« Henri wirft ihr einen Luftkuss zu.
Ich nutze die Unterbrechung als Chance, gierig Wasser zu trinken und mich mit einem Handtuch trocken zu tupfen.
»Noch mal von vorn.« Henri winkt uns heran. »Diesmal mit Musik.«
Als Kiki den Mund öffnet, um zu singen, kann ich meine Pose fast nicht mehr halten. Ihre Stimme ist sanft und erzählt mit jedem einzelnen Ton von Freud und Leid. Sie singt sehr bedächtig und gedehnt. Ich bin leichte, schnelle Schritte gewöhnt, so schwerelos wie möglich. Aber hier zieht die gefühlvolle Choreografie, vor allem im Zusammenspiel mit dieser schönen, bewegenden Musik, an meinen Gliedern. Es ist so, als würde ich durch Honig waten und dabei verzweifelt versuchen, nach André zu greifen, ihn festzuhalten, ohne ihm jedoch jemals nahe genug zu kommen.
»Oui«, ruft Henri. »Oui, Olivia!«
Die ganze Zeit während unserer letzten Schritte, der Schmerzenspose und dem zu Boden sinkenden Plié schauen André und ich uns unverwandt an. Erst am Schluss, als ich weiß, dass es vorbei ist, erlaube ich mir zu knicksen, und lächle erleichtert in Richtung meiner Knie.
»Et encore une fois!«, ruft Henri. Und wir beginnen noch mal von vorne.
Endlich, nach fast vollen acht Stunden Probe, ist Henri zufrieden.
»Ab nach Hause mit dir, Olivia«, sagt er. Meine Konzentration lässt nach und meine Gedanken kreisen schon um das Wiedersehen mit Thomas.
»Du warst sehr gut heute, Olivia«, sagt André auf Englisch zu mir, während er mit mir zur Metro läuft. André ist Anglo-Jamaikaner und nur wenige Jahre älter als ich, aber ungleich talentierter. Ich bin erstaunt, dass er überhaupt mit mir spricht.
»Danke.« Ich erröte.
»Und, was treibst du heute Abend? Hausaufgaben?«
Ich merke, dass André nur Spaß macht, aber trotzdem schmerzt es ein bisschen, dass er und wahrscheinlich auch die anderen Tänzer vom Underground Ballet es lustig finden, dass ich noch auf die Highschool gehe.
»Mein - mein Freund kommt heute Abend aus den Alpen zurück«, sage ich. Das ist mir so rausgerutscht. Was würde Thomas wohl sagen, wenn er hörte, dass ich ihn - jetzt schon! - als meinen Freund bezeichne.
»Also ein heißes Date?«, sagt André neckisch. Wir sind bereits an der Metro-Station am Place d'Italie angekommen. »Dann will ich dich mal nicht länger aufhalten. Ich werde Katica besuchen. Sie wird absolut entsetzt sein, wenn sie hört, wie gut du heute warst, Olivia.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Richte ihr bitte liebe Grüße von mir aus«, murmle ich schließlich.
»Olivia! Das war nur Spaß. Wenn du wirklich beim Underground Ballet tanzen willst, musst du auch mal ein bisschen lachen«, erklärt mir André mit Schalk in den Augen. »Katica wird ziemlich erleichtert sein, dass du sie diese Woche vertreten kannst. Und ganz im Ernst: Du warst fantastisch! Es war irre, dir beim Tanzen ins Gesicht zu schauen. Du hast so gewirkt, als wärst du in deiner ganz eigenen Welt. Tanzen ist für dich eine Flucht, hm?«
Kurz denke ich darüber nach: eine Flucht.
Bei diesem Wort muss ich an PJ denken, die in den frühen Morgenstunden des ersten Weihnachtstags aus der Stadt gehetzt ist, aus Paris flüchtete, weg von den Marquets, dem Lycée, uns. Seitdem bekomme ich immer einen Kloß im Hals, sobald ich an PJ denke. Sie muss solche Angst haben, ganz allein da draußen, während sie versucht, irgendeinem sonderbaren Dämon zu entkommen - irgendeinem Geheimnis, das sie mir nicht anvertrauen konnte. Seit
Weitere Kostenlose Bücher