Bei Anruf - Angst
musst dir darüber klar sein“,
hatte Kuno gesagt. „Wenn du Dieti oder mich verrätst — wenn die Bullen also
erfahren, dass wir Menschenschmuggel betreiben — , dann landen wir für
unabsehbare Zeit hinter Gittern. Und du kommst ins Waisenhaus. Den Luxus, den
du jetzt genießt, wirst du dort sehr vermissen. Denn im Waisenhaus geht’s
ärmlich zu. Außerdem müsstest du dir für immer und ewig vorwerfen, dass du
Dietis Leben zerstört hast. Verdient er das? Ist er etwa nicht fürsorglich und
gut zu dir? Manche andere kleine Schwester würde sich die Finger lecken, wenn
sie so einen Bruder hätte — einen großen Bruder, der alles für sie tut. Also
kümmere dich nicht darum, woher er das Geld nimmt für dein tolles Leben. Dieti
und ich — wir sind keine Unmenschen. Wir bringen niemanden um. Wir verdienen
lediglich an diesem Gesindel, das unser Land überflutet — und dann doch wieder
rausgeschmissen wird. Abgeschoben, wie man sagt.“
Kuno hatte Olivia zu Dr. Specht
gebracht — das heißt, zu einem Treffpunkt in der Innenstadt. Denn Dr. Specht
war offenbar gerade in der Nähe gewesen, hatte in seiner Limousine gewartet und
Olivia übernommen — freundlich, mit dick aufgetragener Harmlosigkeit. Er gab
sich launig und machte Späße. Aber in seiner Stimme schwang eine stählerne
Kälte mit.
Es sei ihm eine Freude,
behauptete er, ein so entzückendes Mädchen für ein paar Tage als Gast
aufzunehmen — zumal Dietmar, den er gut kenne, im Urlaub weile und Kuno ja
beruflich zur Zeit sehr eingespannt sei. Ganz bestimmt werde sich Olivia bei
ihm, Specht, wohl fühlen.
„Danke, dass Sie sich um mich
kümmern“, hatte Olivia schüchtern geantwortet und sich schon jetzt wie eine
Gefangene gefühlt. „Aber Sie wohnen doch etwas außerhalb, nicht wahr? Kuno hat
das gesagt. Wie komme ich dann in den nächsten Tagen zur Schule?“
„Kein Problem! Mein Fahrer
bringt dich hin. Aber zunächst, meine ich, könntest du eigentlich mal blau
machen. Ich rufe in der Schule an und sage, dass du erkältet bist.
Einverstanden?“
„Ich weiß nicht.“
„Du bist doch gut in der
Schule?“
„Ich habe einen
Notendurchschnitt von zwei-plus.“
„Na, also! Da darfst du mal
schwänzen.“
Er war ein großer Kerl, der wie
ein Fleischberg hinterm Lenkrad thronte. Er mochte 50 sein, hatte ein rotes,
schwammiges Gesicht und dünnes Haar von kaum erkennbarer Farbe. Blaue Äderchen
durchzogen die Haut, besonders die fleischige Nase. Die randlose Brille schien
die Kälte in seinen Augen zu verstärken.
„Sie sind Chemiker?“, hatte
Olivia gefragt. „Aber doch kein Chemielehrer?“
Specht hatte gelacht. „Nein.
Ich bin Fabrikant. Spirituosenhersteller. Um genau zu sein: Ich produziere
Schnaps.“ Olivias Herzschlag setzte aus. Sie erinnerte sich an den zweiten Teil
des belauschten Telefonats. Dietmar hatte Kuno erklärt, was er vorhabe in
Tirol. Nämlich das Rezept eines weltberühmten Likörs an sich zu bringen — mit
Gewalt. Und Adolf Tagner — den Olivia flüchtig kannte — sollte ihm dabei
helfen.
„Schnaps?“, hatte sie gefragt. „Auch...
Likör?“
„Leider nicht. Der fehlt noch
in meinem Sortiment. Ich bin schon lange auf der Suche nach etwas ganz
Besonderem. Nicht irgend so ein süßes alkoholisches Gesöff, sondern was
Exquisites (Erlesenes), wonach sich nicht nur die Lady von Welt, sondern
auch ihr Begleiter die Lippen leckt.“
Er lachte fettig, ehe er
fortfuhr: „Du magst wohl Likör?“
„Nein. Ich trinke keinen
Alkohol.“
„Naja. In deinem Alter ist das
okay. Auf den Geschmack kommst du schon noch.“
Sie fuhren aus der Stadt hinaus
in südwestliche Richtung. Aber nicht weit. Das nächste Dorf hieß Hinterflecken.
Am Ortsausgang bog eine Privatstraße ab zu SPECHT-SPIRITUOSEN.
Der Betrieb war eine
Gebäudeansammlung, von der Olivia in der Dunkelheit nicht viel sah. Die Villa
lag dahinter, ein großes, eher finsteres Haus: alt, mit Doppelgarage jüngeren
Datums und einem verwilderten Garten.
In einem Nebengebäude wohnten
Angestellte. Chauffeur und Haushälterin — wie Specht erklärte.
Olivia erhielt ein Gästezimmer
im Obergeschoss, eingerichtet mit hübschen Möbeln und kleinem Fernsehgerät.
Dennoch — sie fühlte sich, als hätte man die Tür eines Kerkers hinter ihr
geschlossen.
12. Auf der Lauer in der Küche
Ganz bestimmt wird der Kerl
kiebig, dachte Tim — wird vielleicht sogar handgreiflich, sobald er den Schreck
überwunden hat. Als Nahkampf-Ass hat der Typ garantiert
Weitere Kostenlose Bücher