Beiss mich - Roman
der stumm hinter mir stand.
»Du hast ja jemanden mitgebracht.«
»Martin Münchhausen, mein Freund. Martin, meine Mutter.«
Sie gab ihm die Hand. »Wie der Lügenbaron?«
»Genau wie der. Mein Beileid zum Tode Ihrer Mutter.«
»Danke.« Mamas Blicke wechselten zwischen uns beiden hin und her. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. »Oh, du hast ja die Zahnspange raus. Hat’s wehgetan?«
»Nein. Wie geht’s Opa?«
»Er nimmt Beruhigungstabletten«, meinte mein Vater. Er kam aus dem Wohnzimmer, eine Flasche Bier in der Hand. Er begrüßte Martin mit freundlichem Interesse und bat ihn ins Wohnzimmer. »Kennen Sie meine Tochter schon lange? Sie hat uns noch gar nichts von Ihnen erzählt.«
»Wir haben uns auf einer Silvesterfeier kennengelernt.«
»Und jetzt wohnt ihr schon zusammen?«
»Ich … äh …«
Martin mischte sich ein. »Sie denkt noch darüber nach.«
»Solveig hat gesagt, du bist quasi schon ausgezogen«, meinte meine Mutter. »Kann ich Ihnen vielleicht was anbieten?«
»Danke, nein.«
Sie nahm es nicht zur Kenntnis, sondern lief hinüber in die Küche und kam mit Kräutertee und Körnergebäck wieder. Sie schenkte uns beiden ein und schob uns den Teller mit den Plätzchen hin. »Da, nehmt nur, muss sowieso alles weg, bevor wir fahren.«
»Nächste Woche geht’s schon los«, sagte Papa. »Wir müssen praktisch nur noch Oma unter die Erde bringen.«
Ich verkrampfte meine Hände auf dem Schoß und sagte kein Wort.
Mama aß fünf Kleie- und Haferplätzchen in rascher Folge hintereinander. Sie starrte auf einen imaginären Punkt über der selbst getöpferten Fruchtbarkeitsgöttin, die auf der Fensterbank thronte, ein schlammfarbiges, tönernes Ungetüm mit urwüchsig ausladenden Hüften und glockenartigen Titten, die bis zu den klobigen Knien reichten.
»Was machen Sie denn beruflich so?«, wollte sie wissen.
»Ich bin Geschäftsmann.«
»Er ist Geschäftsmann.«
Das kam unisono. Martin und ich hielten inne, sahen einander an und lächelten. Ich spürte seine Sympathie für unser schäbiges kleines Reihenhaus, für die überall sichtbaren Auswüchse von Mamas Esoterikspleen, für ihr bemüht alternatives und dadurch erst recht spießiges Gebaren. Um diesem Ambiente etwas abgewinnen zu können, musste man es mögen, und das war im Grunde nur möglich, wenn man es durch die Augen der liebenden Tochter sah. Irgendwie brachte Martin es fertig, mein Elternhaus durch meine Augen zu sehen, und dafür war ich dankbar.
»Das mit Opa ist natürlich hart«, meinte Mama. »Er ist jetzt ganz allein. Aber was sollen wir machen? Wir können ja jetzt nicht mehr aus dem Vertrag aussteigen. Und er kann auch nicht einfach mit nach Mallorca.«
»So einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr«, pflichtete Papa ihr bei.
Mama stand vom Sofa auf. Sie war unruhig, ich merkte es an ihren ziellosen Blicken, an den nervösen Bewegungen, mit denen sie sich über ihr regenbogenfarbiges Hemdblusenkleid strich. Sie packte den riesigen Achat, der an einem Lederbändchen auf ihrem Busen baumelte, und rieb ihn zwischen den Fingern.
»Ich bin wirklich wahnsinnig froh, dass du dich um ihn kümmern willst«, sagte sie zu mir.
Ich zuckte zusammen. Dann starrte ich verzweifelt zu Papa, doch auch dort sah ich nur beifällige Dankbarkeit.
»Sonst wäre das für uns echt ein Problem«, meinte er. »Für alte Leute ist es ganz wichtig, dass sie jemanden haben, der ein bisschen nach ihnen schaut. Damit sie das Gefühl haben, noch gebraucht und geliebt zu werden.«
»Aber …«, setzte ich an.
Martin nahm meine Hand und drückte sie. »Es kann sein, dass wir bald umziehen. Mein berufliches Engagement führt mich vielleicht demnächst ins Ausland, und ich möchte, dass Ihre Tochter mit mir kommt, wenn es so weit ist. Doch ich verspreche Ihnen, dass wir bis dahin jede Gelegenheit nutzen werden, nach ihrem Großvater zu sehen.«
»Das ist anständig von euch«, seufzte Mama. »Auf Lucas können wir nämlich im Moment nicht zählen.«
»Wieso? Was ist mit ihm?«
»Er leidet noch ziemlich unter der Trennung von Claudia.«
»Claudia? Du meinst Bea, oder?«
»Nein, Claudia«, sagte Papa.
»Das Schulmädel«, setzte Mama abfällig hinzu.
»Sie hat Schluss gemacht?«
»Ja, mit der Begründung, sie müsste sich mehr auf die Schule konzentrieren.«
Das war wenigstens ein Grund, der einem Mann nicht das Gefühl gab, ein rettungsloser Versager zu sein, überlegte ich.
»Und außerdem hat sie überall rumerzählt, dass Lucas unter
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