Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sah mein zukünftiges Ich als jemand Älteren, jemanden, der gewandter darin war, diskret in Schlafzimmern ein und aus zu gehen, jemanden, der so oft lieben konnte, wie er wollte, ohne für seine sprunghafte Natur zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Aber dann verliebte ich mich.
Es war im Oktober, der Beginn einer Jahreszeit, die ich bis dahin nur von den schweren Farben und den warmen Accessoires auf dem Laufsteg kannte. Ich kam aus den Tropen und hatte noch nie so etwas wie den Herbst im Nordosten mit seinen leuchtenden Farben und dem hinreißenden Laub erlebt. Je weiter man nach Norden kam, desto hinreißender wurde es, und so fuhren viele New Yorker jedes Jahr am Herbstanfang den Palisades Parkway hinauf. Was für eine aufregende Zeit in Amerika! Wie aus dem J. Crew-Katalog. Alle kamen mit Minikürbissen fürs Büro, Unmengen von Bioäpfeln und Mokassins von Cole Haan zurück. Ahmed hatte seine beidenAnzüge bekommen, und ich rechnete nicht damit, außer dem gelegentlichen Gruß im Treppenhaus noch weiter mit ihm zu tun zu haben. Ich hatte Geld, aber nicht so viel, dass alles einfach gewesen wäre. Ungefähr zu dieser Zeit heuerte mich erneut Vivienne Cho an; einer ihrer Stylisten war wegen Gallensteinen ausgefallen. Durch die enge Zusammenarbeit in ihrem Studio auf der West 27 th wurden wir schnell Freunde. Sie war jung, intelligent und erfolgreich und sagte mir ihre Unterstützung zu, wenn ich eines Tages meine eigene Kollektion herausbrachte. Die ein oder zwei Tage pro Woche bei ihr und das Geld von Ahmed erlaubten es mir, an den meisten Nachmittagen an meiner Kollektion zu arbeiten und mir ab und zu einen freien Samstag zu gönnen.
An so einem Samstag Mitte Oktober unternahm ich zusammen mit Olya und ihrem türkischen Freund Erik, einem Harvard-Studenten, meinen ersten Herbstausflug ins New Yorker Umland. Wir fuhren in Eriks Saab über die George Washington Bridge und dann den Hudson hinauf. Unser Ziel war Dia:Beacon, eine ehemalige Keksfabrik, die in ein Museum umgewandelt worden war, und auf dem Rückweg wollten wir bei ein oder zwei Bio-Obstständen anhalten. Olya war völlig am Ende, weil Erik, mit dem sie erst seit ein paar Monaten zusammen war, zwei Tage darauf in ein Ausbildungslager der türkischen Armee gehen würde. Können Sie sich das vorstellen? Er war Harvard-Absolvent und US-amerikanischer Staatsbürger. Er hatte sogar einen leichten Long-Island-Akzent. Aber um die doppelte Staatsbürgerschaft zu behalten, musste er eine dreiwöchige Grundausbildung absolvieren.
(An dieser Stelle sei festgehalten, dass ich froh wäre, wenn ich meinen philippinischen Pass abgeben und stolzer US-Bürger werden könnte. Nicht, dass das irgendetwas zu sagen hätte, schließlich geht es Millionen Menschen auf der ganzen Welt genauso. Und ich vermute, auch hier im Niemandsland sind einige von ihnen.)
Wenn Olya nicht gerade auf einer Museumsbank auf Eriks Schoß saß und ihn auslutschte wie ein Stück Apfelsine, ging sie neben mir her und haderte mit ihrem Schicksal, ihn an die Türkei zu verlieren.
»Kaum verliebst du dich, schon gehen sie weg und sterben für ihr Land«, sagte sie. »So läuft das, wenn Krieg ist.«
»Er wird nicht sterben«, sagte ich. »Nach drei Wochen ist er wieder da. Das ist doch nur ein Ausbildungslager.«
Sie schüttelte den Kopf. Wir hatten Erik irgendwo bei Richard Serra aus den Augen verloren, wo er sich zur Toilette entschuldigt hatte. Olya erklärte mir, er habe eine schwache Blase und werde schon allein deshalb die türkische Armee nicht überleben.
Dann sah ich sie. Michelle. Sie war allein und schlenderte an einer Installation aus Glasscherben vorbei. In ihrem Diane-von-Fürstenberg-Wickelkleid aus grünem Jersey wirkte sie dynamisch wie ein Fashion Editorial aus den Siebzigern. Ich wollte ein Bild von ihr vor den Glasscherben für mein Moodboard. 34
»Schnell«, unterbrach ich Olya, »gib mir mal dein Fotohandy.«
»Hier drin darf man nicht fotografieren.«
»Merkt doch keiner.«
»Doch, ich«, sagte eine tiefe Stimme. Wir drehten uns um und sahen einen Museumswärter, einen großen Mann in Uniform, der an einer Säule lehnte.
Ich schlenderte zu ihm hinüber und erklärte ihm meine Situation. »Verzeihen Sie, Sir, ich wollte ein Foto von dem Mädchen machen, das da stand. Nicht von den Kunstwerken, wissen Sie. Wäre das möglich? Natürlich nur mit Ihrer Erlaubnis.«
»Möglich wäre das. Aber dann müsste ich Ihre Kamera einkassieren.«
»Das ist bloß ein
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