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Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Gilvarry
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Gespür für Mode. Sie trug ein Vintage-Kittelkleid, geschmackvoll am Ansatz des Brustbeins aufgeknöpft. Mein Gott, mit welch frauenhafter Präzision sie all das trug! (Nur wenige Einundzwanzigjährige sind schon echte Frauen.) Mir fiel zum ersten Mal auf, was für tolles Haar sie hatte. Die schweren Lagen wirkten schier endlos – ich wollte mich darin vergraben! Ich folgte der Linie ihrer elfenbeinfarbenen Beine vom Rocksaum bis zu ihren Ballerinas, wo ein unpassender L. L.-Bean-Rucksack mit den Initialen T. W. M. stand. Später würde ich erfahren, dass es die Initialen eines gewissen Todd Wayne Mercer waren, einesEx-Freundes. Er hatte ihr die Unschuld genommen, sie ihm den Rucksack. Das war nur fair.
    Sie sah von ihrem Theaterstück auf, und ich erwiderte ihren Blick. Er drang bohrend aus ihren nussbraunen, im Licht des U-Bahn-Waggons beinahe farblosen Augen und durch ihre großen Brillengläser. Wie gesagt, sie hielt ihr Buch in meine Richtung, deshalb vermutete ich, dass sie mich als den Typen wiedererkannte, der ihr von Bridget Riley zu Joseph Beuys gefolgt war. Als sie mich anlächelte, wusste ich, ich hatte grünes Licht. »Nähert euch nicht trunken dem Gebet, sondern wartet, bis ihr wisset, was ihr sprechet.« Ich entschuldigte mich bei den anderen Fahrgästen und schlängelte mich zu ihr durch.
    Die nächste Station. Pendler stiegen ein und aus.
    »Hast du es gelesen?«, fragte sie mich plötzlich. »Du guckst die ganze Zeit so, als ob du es gelesen hättest.«
    »Ja.« Ich hatte es nicht gelesen. » The Dutchman «, sagte ich. » Das niederländische Werk der letzten fünfzig Jahre schlechthin.«
    »Ist ja witzig.«
    »Ich hab es nicht gelesen«, gab ich zu. »Aber ich hab es gesehen.«
    »Auf der Bühne?«
    »Nein, den Film mit Louis Gosset junior.« 38
    Darüber musste sie lachen.
    »Aber ich liebe das Theater«, sagte ich. »Broadway und so.«
    »Ich hasse den Broadway. Pfui Teufel. Nichts als überteuerter Schund. Hast du mal geguckt, wer heutzutage ins Theater geht? Alte Omas und Touristen. Das Theater ist tot. Wahrscheinlich ist das genau der Grund, warum ich dazugehören will. Ich hab ein Faible für Abgesänge. Wie heißt du?«
    Ich sagte es ihr, und wieder lachte sie. Ich fragte, was daran so lustig sei. »Ach komm schon«, antwortete sie, »diese Ironie. Wie in einer philosophischen Komödie. Ich bin Girl, du Boy. Hallo, Boy. Ich heiße Michelle.«
    Sie war auf dem Weg nach Brooklyn Heights, um ihre Großmutter zu besuchen. Ihre Oma besaß ein Reihenhaus auf der Henry Street, wo Michelle das Wochenende fernab der Uni verbringen würde.
    Ich verpasste den Union Square, wo ich eigentlich umsteigen musste, aber das war mir egal.
    Sie erzählte mir von ihrer Oma, die vor Kurzem beim Tangounterricht gestürzt war, und dass sie ihr am Krankenbett Frank O’Hara vorlesen wollte. »Er wurde auf Fire Island von einem Dune Buggy überfahren«, sagte Michelle über O’Hara. »Kaum zu glauben, oder?« Ihre Oma war selbst Dichterin und führte zu ihrer Zeit wohl eine ziemlich geschliffene Feder. Sie veröffentlichte unter dem Namen Willomena Proofrock. 39
    »Von einem Dune Buggy«, wiederholte ich und stellte mir einen Mann auf einem Badelaken vor, der von einem Strandfahrzeug überrollt wurde. »Scheiße.«
    »Das ist total ironisch.«
    Michelle hatte ein ungeheueres Faible für Ironie. Für sie war die ganze Welt darin eingetunkt, ein einziger großer Ödipus Rex .
    »Dann bist du also Schauspielerin?«, fragte ich.
    »Nicht ganz. Dramatikerin. Aber ich hab früher am Schultheater gespielt. Ich bin am Schauspielkonservatorium des Sarah Lawrence College. Bist du Filipino?«
    »Woran hast du das erkannt?«
    »Unser Dienstmädchen damals zu Hause hatte dieselbe Nase wie du. Sie hat immer auf Filipino Ferngespräche geführt. Meine Eltern hat das aber nie gestört.«
    »Wir exportieren die, weißt du«, sagte ich. »O. F. W.s heißen sie.« Ich schrieb O. F. W. in die Luft zwischen uns. Immer, wenn ich nervös war, gestikulierte ich zu viel. »Overseas Filipino Worker. Es gibt sogar Länder, da ist Filipina das Wort für Dienstmädchen.«
    »Das ist so ironisch.«
    Vor uns wurden zwei Plätze frei, und wir setzten uns. Michelle neigte im Sitzen zu schlechter Haltung, sie schob den Po auf dem Sitz zu weit vor und ließ Schultern und Kopf hängen. Zuerst glaubte ich, sie tue das mir zuliebe, damit der Größenunterschied nicht so auffiel, aber ich merkte bald, dass sie immer so saß. Eigentlich war es

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