Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Gilvarry
Vom Netzwerk:
das einzig Unfeminine an ihr. Den Rest fand ich umwerfend.
    Ich erzählte ihr von Manila, meiner sterbenden Stadt. Krebszerfressen, voller Metastasen und degeneriert. Seltsam, in meiner Jugend dort hatte ich nie solche Gefühle gehegt. Damals störte mich in erster Linie, dass es keine der großen Modemetropolen wie New York, London oder Paris war. Was in meinem Land politisch so los war, kümmerte mich einen Dreck. Terrorismus, die NPA 40 , die korrupte Regierung – nichts davon konnte mich hinter dem Ofen hervorlocken. Und auf einmal erzählte ich Michelle, Manila brauche jemanden wie Giuliani. »Jemanden, der mal eine Amtszeit lang nicht in die eigene Tasche wirtschaftet und stattdessen das Armutsproblem angeht.«
    Sie erzählte mir im Gegenzug von ihrer Kindheit in New York in den Achtzigern, einer Zeit, in der kein Mensch auf der Lower East Side ausging und es in SoHo noch nicht mal einen Prada-Store gab.
    Ich machte ihr ein Kompliment für ihr Vintage-Kleid.
    »YSL?«
    »Wie, du bist schwul?«, witzelte sie.
    »Nein, Designer. Die Farbe sieht nach YSL aus, späte Siebziger. Aber ich kann mich auch täuschen.«
    »Die YSL-Sachen aus der Zeit mag ich am liebsten. Aber ich glaube, das hier ist Dior.«
    »Das hätte ich als Nächstes getippt.«
    »Du bist Modedesigner und nicht schwul ? Das ist so was von ironisch.«
    Bald stiegen wir aus, und ich trug Todd Wayne Mercers Rucksack für sie die Joralemon Street entlang. Ich gestand, dass ich sie schon einmal gesehen hatte, und beschrieb ihr, was sie an dem Tag im Museum getragen hatte, das grüne DVF-Wickelkleid. Überrascht wirkte Michelle nicht. Aber sie fühlte sich geschmeichelt, dass jemand auf sie aufmerksam geworden war und sie als unvergesslich betrachtete; so hatte sie sich selbst nie gesehen. Erst sehr viel später gab sie zu, dass sie sich auch an mich erinnerte, den kleinen Filipino in engen Jeans mit dem süßen Hintern.
    Wir gingen weiter. Sie zeigte mir die Brooklyn Promenade, eine baumgesäumte Uferstraße, die zu jeder beliebigen Kleinstadt der USA hätte gehören können. Sie zeigte mir, wo Arthur Miller gewohnt hatte, ihr amerikanischer Lieblingsdramatiker. Es war eine so malerische, literarische, anheimelnde und so weiße Gegend, dass ich mich dort an jedem anderen Tag und mit jedem anderen Menschen unwohl gefühlt hätte. Sehr viel wohler war mir an der Ecke McKibbin und Graham Street unter Drogendealern, Puerto Ricanern, Schwarzen und Hipstern, im Herzen von Bushwick, wo jeder mehr oder weniger ein Einwanderer war und einer dem anderen das Revier streitig machte. Aber auf diesem ersten Ausflug nach Brooklyn Heights mit Michelle dachte ich an nichts von alldem. Durch den offenen Kragen ihres Kleidssah ich ihre blasse Haut, unter der sich ihr Brustkorb abzeichnete, und den Ansatz ihres kleinen, festen Busens. Und ihr langer Hals voller Sommersprossen – wie ein schlanker Ast. Wie berauschend! Ihr Gesicht glich einem reifen Stück Obst. Nimm einen Bissen, sagte es. Ich schwöre, ich wehrte mich gegen diesen Drang, sie zu sexualisieren. Aber ach, wie lechzte ich doch nach einem Leib! Trotzdem wusste ich, dass ich Geduld und Selbstbeherrschung brauchte, um bei einem Mädchen mit Westchester-Wurzeln zu landen. Ich würde sie noch nicht küssen, beschloss ich, und wiederholte mir still ein paar amerikanische Gemeinplätze: Immer sachte, Der frühe Vogel fängt den Wurm. »Du bist eine faszinierende Frau«, sagte ich. Sie erwiderte mein Kompliment mit einem Lächeln und schien umzuknicken wie eine Lilie, deren Blütenblätter zu schwer werden. (Warum wird man immer so blumig, sobald man von Liebe spricht?) Mein Gott, so erinnere ich mich an sie aus unserer Anfangszeit, leicht mit Schmeicheleien zu beeindrucken, egal wie grob und tyrannisch sie einmal werden würde. Michelle war ein Vorschlaghammer, aber wenn man ihr die richtigen Dinge sagte, schmolz sie einem in den Armen wie Blei.
    Wir gingen von der Uferpromenade zurück zur Henry Street und trennten uns an der Ecke. Ich fand es seltsam, dass ich sie nicht bis zur Haustür ihrer Oma begleiten sollte. Ihr wurde wohl klar, dass ich immer noch ein Mann war, den sie gerade erst kennengelernt hatte. Schließlich waren wir in einer Stadt, in der alles passieren konnte. Man konnte wie aus heiterem Himmel einen Fremden treffen und plötzlich mit ihm über die Brooklyn Promenade spazieren. Ich sah zu, wie Michelle sich langsam entlang einer Reihe von Straßenlaternen entfernte, über der Schulter Todd Wayne

Weitere Kostenlose Bücher