Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
von Wall-Street-Wichsern mit zerknitterten Hemdschößen.
Vermisste ich womöglich die feuchte Luft der Tropen, das schwüle Wetter, das ich mein Leben lang gehasst hatte? Hatte ich in Wirklichkeit etwa Heimweh nach einem dünnen Jersey-T-Shirt, einem kurzen Flug nach Palawan, Nacktbaden in einer salzigen, lauwarmen Bucht und einer Zigarette in der heißen Sonne? Es war mein erster Winter in New York, und ich litt unter dem, was die Amerikaner »Jahreszeitlich bedingte Depression« nennen. Es liegt an den harten Wintern, dass so viele von ihnen Zoloft brauchen.
Dass ich ohne dieses Medikament auskam, verdankte ich meinem neuen Studio in der Zahnstocherfabrik, das von Januar 2003 an voll nutzbar war. Ahmed hatte Wort gehalten. Ich besaß einen stabilen Zeichentisch, einen Arbeitsplatz zum Schneiden und Nähen, Schneiderpuppen und Stangen voller neuer Kleider. Jetzt war es an der Zeit, mich um meinen vernachlässigten Wohnbereich zu kümmern, erkennbar bisher nur an einer Matratze auf dem Boden und ein paar Barhockern. Zwischen den Fahrten nach Bronxville und meiner Arbeit hatte ich keine Zeit gefunden, mich einzurichten. Michelle kam mich nie besuchen, wegen ihrer Kurse und eines neuen Theaterstücks, das sie als Eigenprojekt für die Uni schrieb. Als sie an einem düsteren Februarwochenende dann doch endlich einmal bei mir übernachtete, war das Loft zu kalt, zu nüchtern und zu spartanisch, als dass darin eine gemütliche Stimmung aufgekommen wäre. Also stiegen wir am Sonntag, nach einem Brunch mit Michelles Oma in Caroll Gardens, in einen Bus Richtung New Jersey mit Ziel Ausfahrt 13A, wo es ein großes schwedisches Möbelhaus gab.
Ich habe eine starke Flagge schon immer als Grund für den Wohlstand einer Nation betrachtet. Sehen Sie sich Japans rote Sonne an, das Yin und Yang von Korea, Amerikas rot-weiße Streifen, das jüdische Hexagramm von Israel oderRusslands Hammer und Sichel. 46 Es sind Symbole der Kraft. Gute Farbabstimmung, ausgewogenes Design, edle Komposition. Sehen Sie sich dagegen die Nationen an, denen es schlecht geht. Monde, Sterne, Immergrün – das alles sieht man nur bei völliger Dunkelheit, oder es wirft lange Schatten. Setzen Sie diese Symbole auf eine Farbpalette aus Schwarz-, Rot- und Gelbtönen, und das Desaster ist quasi vorprogrammiert. Miese Farben – Länder darben. Die Philippinen, Malaysia, Pakistan, Afghanistan – Flaggen wie ihre werden nie über blühenden Landschaften flattern. Diese Länder werden immer auf den hinteren Rängen herumdümpeln. Oder glauben Sie, als Francis Scott Key oder wer auch immer die soundsovielte Version der Old Glory enthüllte, hätte der Präsident zu ihm gesagt: »Hübsch, aber könnte sie nicht ein bisschen mehr nach Dritter Welt aussehen?«
Sir, nein Sir!
Das mag das Gefasel eines simplen Geistes sein, der sich dilettierend am Weltgeschehen versucht, aber als unser Bus vor dem großen, mit der schwedischen Fahne drapierten Möbelhaus vorfuhr, fühlte ich mich unwillkürlich mit diesem mächtigen Symbol wirtschaftlicher Potenz verbunden.
Leider verpuffte dieser titanische Stolz, als wir unseren Gang durch die schwedisch modernen Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bäder antraten. Triste Pärchen wechselten sich in einem Labyrinth der Häuslichkeit beim Probesitzen auf Zweiersofas und Lehnsesseln ab. Das Ganze – die dünnen, in der Mitte aufgeschnittenen Wände, die strategisch beleuchteten Szenen – war eine einzige Bühne! Wir spazierten durch Kulissen wie Schauspieler in einem großen Theaterstück und taten nur so, als ob! Auch Michelle und ich, wir spielten nur.War diese tief in meinem Unbewussten vergrabene Tatsache vielleicht der Grund, warum ich mich in der Zahnstocherfabrik bisher nie richtig um meinen Wohnbereich gekümmert hatte? Wir waren ein Schein pärchen.
Hinter einer Ecke stießen Michelle und ich auf einen Kinderbereich. Ein Kind wurde von seiner Mutter übers Knie gelegt. Es wimmerte. Andere Eltern und Paare standen drum herum und überlegten, ob sie sich einmischen sollten. Aber es war Winter, eine Jahreszeit der Tatenlosigkeit, und so sahen alle bloß zu, wie das Kind den Hintern voll bekam. Vielleicht war es auch egal. Der Kleine trug einen Schneeanzug, wahrscheinlich spürte er ohnehin nicht viel.
Ich auch nicht, als ich zuließ, dass Michelle unseren Wagen mit irgendwelchem Markthallenkrempel vollpackte. Ein Sieb, ein Kaffeedrücker, Vorratsgläser, eine Reispapierlampe, eine Badematte, ein kleiner Teppich, Pflanzen und
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