Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Gilvarry
Vom Netzwerk:
diverser anderer Schnickschnack. Hinter der Kasse sah ich wieder das Kind mit seiner Mutter im Schlepptau; die Tränen waren getrocknet, und der Kleine hielt einen Hotdog ohne Brötchen in der Hand. Wie konnte er vergessen haben, was gerade vorgefallen war? Konnte ein simples Würstchen seine ganze Welt wieder in Ordnung bringen?
    Ich sah Michelle an, die ausdruckslos vor sich hinstarrte. In diesem Licht fand ich sie gar nicht mehr schön. Ich wollte nicht mehr so tun, als ob. Aber ich stand der Entropie unserer Liebe hilflos gegenüber. Damals gab ich dem Winter die Schuld, aber erst ein ganzes Jahr später würde ich es schaffen, meine Befreiung in Gang zu bringen.
    Es war schließlich meine Milchzeit, als mein Verstand noch grün, wenn ich einmal einen von Michelles Lieblingssätzen borgen darf. (Sie zitierte andauernd Stanislawski.) 47 Im Jahr 2003 hatte ich noch keinen Plan – weder, was Michelle anging, noch mein Bettgestell, das ich bei West Elm würde bestellen müssen. Die Welt außerhalb der schillernden Blase der Haute Couture – groß H, groß C – kümmerte mich einfach nicht.
    Tief einatmen.
    Die Modeblase breitet sich ausgehend von New York, wo sie entsteht, über den Atlantik nach Paris, London und dann nach Mailand aus, bis sie am Saisonende »plopp« macht. Dann schauen Designer, Investoren, Presseagenten, Stylisten und Models zu den herabregnenden Gewinnen auf. Kaum dass die Blase geplatzt ist, entsteht in New York aber schon wieder eine neue, die zweite. Sieh mal, da schwebt sie, direkt über der Seventh Avenue. Und die ganze heiße Luft, die sie aufnimmt!
    Nachdem ich nun ein paar Monate wie ein Besessener an meiner neuen Kollektion gearbeitet hatte, gehörte ich immer noch nicht zu denen, deren Lippen diese Blase anschwellen ließen. Und wer gehörte dazu? Natürlich Philip Tang, mein Freund und ehemaliger Kommilitone. Trotz all seiner Unterstützung bei meiner Ankunft hier in der Stadt – Ausrüstung, Connections – war ich immer noch neidisch auf ihn. Er war nur ein paar Jahre länger als ich in New York und flirtete schon mit den Obersten der Branche. Er hatte ganz sicher die Lippen an der Blase, und mit seiner neuen Kollektion Philip Tang 2.0 blies er aus vollen Lungen.
    Philip, das Enfant terrible, stammte aus Taiwan und war im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie nach Manila gekommen. Seine Eltern verdienten schnell ein Vermögen mit ihrer kleinen Textilreinigungskette, Lucky Dry Clean Non-Toxic. Lucky – Glück? Segen trifft es wohl eher. Mit neun zeichnete Philip Entwürfe und konnte schon ganz alleine eine Nähmaschine bedienen. Mit elf nähte er Kleider für seine beiden älteren Schwestern, die er ausstaffiert wie Diven zu Schultanzabenden schickte. Mit fünfzehn wurde er am FIM angenommen, als jüngster Student in der Geschichte des Colleges.
    Es kommt mir vor wie gestern, dass ich Philip in unserem Gemeinschaftsstudio bei der Arbeit zusah. Mein Arbeitsplatz befand sich direkt hinter seinem. Unsere Schneiderpuppen mit den Stücken, die wir in der jeweiligen Woche anfertigen sollten, standen nebeneinander.
    Ich rief ihn damals manchmal zu mir und fragte ihn nach seiner Meinung, aber nur, wenn mir etwas wirklich Hervorragendes gelungen war. Ich weiß noch, wie ich einmal ein kurzes Cocktailkleid vollendet hatte und es als das beste Stück betrachtete, das ich in jenem Semester zusammengeschustert hatte. Ich war stolz darauf und hoffte auf seine Anerkennung. Mehr als alles andere wollte ich von ihm hören, dass auch ich großartig war.
    »Was meinst du?«, fragte ich.
    Zuerst sagte er gar nichts. Rieb sich nur das berühmte Muttermal am Kinngrübchen.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich meine, wirklich neu ist daran ja nichts, oder? Ich sehe eine müde Schleife, wo etwas Schlichteres hingehören würde. Ein Gürtel zum Beispiel. Hier«, sagte er und drehte die Büste um. »Versuch’s mal damit.« Er löste meine geraffte Schleife, das Stück Stoff, das dem Kleid seine Form verlieh, und bügelte sie auf meinem Arbeitstisch glatt. »Guck mal«, sagte er mit einer Stecknadel im Mund und legte den improvisierten Gürtel um das Kleid. »Wie wäre es denn so? Besorg dir eine Schnalle und mach einen Gürtel draus. Der hat mehr Aussage. Was meinst du?« Er steckte ihn fest und trat einen Schritt zurück.
    »Also, ich weiß nicht. Ich fand, vorher hatte es was von Dior.«
    »Dior? Vorher war es durch und durch konventionell.«
    »Ich mag’s konventionell.«
    »Du hast keine

Weitere Kostenlose Bücher