Belgarath der Zauberer
meine natürliche Neugier – und glaubt mir, ich kann sehr neugierig sein.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er den Winter über machte. Mir schien, daß er lange Zeit damit verbrachte, einen schlichten Stein zu betrachten. Er sprach nicht sehr oft, aber ich redete genug für uns beide. Ich hörte mich immer gern reden – habt ihr das schon bemerkt? Mein ständiges Gerede mußte ihn wohl schließlich gestört haben, denn eines Abends meinte er – ziemlich direkt –, warum ich nicht anfinge, etwas zu lesen.
Natürlich wußte ich, daß es Leute gab, die sich Bücher zu Gemüte führten. Niemand in Gara konnte lesen, aber ich hatte Tolnedrer gesehen, die es taten – oder es zumindest vorgaben. Damals war es mir ziemlich albern erschienen. Warum sollte man sich die Mühe machen und jemandem einen Brief schreiben, der nur zwei Häuser entfernt wohnt? Wenn es etwas Wichtiges mitzuteilen gibt kann man doch zu dem Betreffenden gehen und es ihm sagen. »Ich weiß nicht wie man liest, Meister«, bekannte ich.
Er schien tatsächlich etwas überrascht. »Ist das wirklich wahr, Junge?« fragte er mich. »Ich dachte, diese Begabung sei deiner Rasse angeboren.«
Ich wünschte, er würde aufhören, von ›meiner Rasse‹ zu sprechen; ich kam mir vor, als gehörte ich einer seltenen Gattung von Nagetieren oder Insekten an.
»Hol das Buch, Junge«, wies er mich an und deutete auf das hohe Regal.
Erstaunt sah ich auf. Ich hatte den Raum Dutzende Male vom Boden bis zur Decke abgestaubt und gebohnert, und ich hätte geschworen, daß das Regal noch nicht dort stand, als ich das letztemal hinschaute. Ich überspielte meine Verwunderung, indem ich fragte: »Welches Buch, Meister?« Bemerkt ihr, daß ich schon so etwas wie gute Manieren anzunehmen begann?
»Welches du möchtest«, erwiderte er gleichmütig.
Ich nahm irgendein Buch und brachte es ihm.
»Setz dich, Junge«, wies er mich an. »Ich werde dich unterrichten.«
Ich wußte gar nichts über das Lesen; deshalb erschien es mir auch nicht seltsam, daß ich unter seiner geduldigen Anleitung binnen einer Stunde ein gewandter Leser wurde. Entweder war ich ein besonders begabter Schüler – was höchst unwahrscheinlich scheint –, oder er war der beste Lehrer, den es jemals gab.
Von dieser Stunde an entwickelte ich mich zu einem unersättlichen Leser. Ich verschlang ein Buch nach dem anderen. Dann, etwas enttäuscht, fing ich wieder mit dem ersten Buch an, nur um festzustellen, daß ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Ich las und las und las, und keine der Seiten war mir bekannt. Ich las mich mehr als ein dutzendmal durch die kleine Bibliothek und fand trotzdem immer neuen Lesestoff. Das Lesen eröffnete mir die Welt des Geistes, und das gefiel mir ausnehmend.
Meine neu entdeckte Besessenheit gab meinem Meister etwas Frieden, und er schien mich wohlwollend zu betrachten, wenn ich an diesen langen, verschneiten Winterabenden Texte in fremden Sprachen las, die ich nicht hätte sprechen können, die ich aber nichtsdestoweniger deutlich verstand. Beinahe unbewußt bemerkte ich auch, daß mein Meister keine Aufgaben für mich zu haben schien, wenn ich las, zumindest nicht zu Anfang. Der Konflikt zwischen dem Lesen und den Aufgaben kam später. Und so verbrachten wir den Winter in einer Welt des Geistes, und von ein paar Ausnahmen abgesehen, war ich wohl nie zuvor so glücklich gewesen.
Es waren gewiß die Bücher, die mich das kommende Frühjahr und während des Sommers dort festhielten. Wie ich vermutet hatte, regten die wärmer werdenden Tage und Nächte die schöpferische Kraft meines Meisters an. Er fand alle möglichen Aufgaben für mich, die ich im Freien erledigen mußte – meist waren es unangenehme Tätigkeiten, die viel Mühe und Schweiß kosteten. Zum Beispiel macht es mir keine Freude, Bäume zu fällen – schon gar nicht mit einer Axt. Achtmal in diesem Sommer zerbrach ich den Axtgriff – absichtlich, das gebe ich zu –, und wundersamerweise war der Stiel am nächsten Tag wieder heil. Ich haßte diese verfluchte, unzerstörbare Axt! Seltsamerweise war es nicht das Schwitzen und Stöhnen, das mir etwas ausmachte; ich hätte die Zeit, in der ich Bäume fällte, lieber viel gewinnbringender damit zugebracht, mich durch das schier unerschöpfliche Bücherregal zu lesen. Jede Seite eröffnete mir neue Wunder, und jedesmal stöhnte ich hörbar, wenn mein Meister vorschlug, meine Axt und ich sollten sich draußen vergnügen.
Unvermittelt wurde es wieder
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