Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
Erkundigungen gefunden, nachdem er und Kate vor den Verbrennungen in Straßburg geflohen waren; Alejandro vertraute darauf, daß er sich im Notfall unter den Menschen verbergen konnte, die dort lebten, zumindest für eine Weile. Hin und wieder roch, hörte oder spürte er etwas, das ihn an die Vergangenheit erinnerte. Sein Herz schmerzte ihn manchmal vor Einsamkeit, wenn er solchen Bildern von früher begegnete – aber er suchte trotzdem danach.
Er bog in südlicher Richtung in die Straße des alten Tempels ein und ging dann am Fluß entlang wieder nach Westen; wieder einmal staunte er über den auffallenden Unterschied zwischen der relativen Sauberkeit der Seine und dem beklagenswerten Schmutz der Themse. Sein erster Eindruck von diesem Fluß, als er nach London gekommen war, stieg vor seinem inneren Auge auf: Leichen schwammen in dem verseuchten Wasser, deren Gestank sich zu den Planken der hohen Brücke erhob. Ruderer hielten sich Tücher vor Mund und Nase. Und die Engländer gingen bei all dem ihren Geschäften nach, als lebten sie nicht an den Ufern einer Jauchegrube. In Paris konnte man die Seine auf vielen Brücken überqueren, ohne würgen zu müssen; die Bürger von Paris hätten einen solchen Mißbrauch ihres schönen Flusses nicht geduldet.
Trotzdem würde nur ein Verzweifelter sein Wasser trinken, dachte er.
Auf der Brücke verkehrten fast nur Fußgänger, denn Pferde waren maßlos kostbar geworden. Er hatte eine stattliche Summe bezahlt, um sein eigenes Pferd in einem Stall am Nordrand der Stadt unterzubringen, und dem Knecht noch mehr versprochen, wenn er zurückkam – mehr, als dieser durch den Verkauf des Pferdes herausschlüge. Der Adel hielt sich ängstlich zurück oder war ganz aus der Stadt geflohen, und man sah nur wenige Kutschen. Gelegentlich begegnete er einem von einem Maultier gezogenen Karren, aber sonst waren ausschließlich Fußgänger unterwegs.
Als er die Insel erreicht hatte, blieb er stehen und starrte zur Kathedrale Notre Dame de Paris empor. Für einen Moment ließ er sich von der geballten christlichen Macht dieses gewaltigen Bauwerks beeindrucken, denn es war von großer Schönheit; er fand sich hin und her gerissen zwischen der Bewunderung seiner Pracht und dem Wissen um das, wofür dieses Wahrzeichen stand. Sicherlich mußte es inzwischen vollendet sein; die päpstlichen Wachen, die ihn vor einem Jahrzehnt auf seinem Ritt durch Frankreich begleitet hatten, hatten davon gesprochen und die Tatsache beklagt, daß sie keine Gelegenheit haben würden, es aufzusuchen. Doch er erinnerte sich noch genau, wie sie es ihm beschrieben hatten, ein Turm fertig, der andere noch im Bau. Er schaute prüfend hinauf und verglich die beiden Türme. Sie waren weitgehend gleich. Kurz fragte er sich, wie man nach den Pestjahren, die die Bevölkerung furchtbar dezimiert hatten, noch tüchtige Bauleute fand. Höchstwahrscheinlich hat man sie zur Arbeit gezwungen, oh sie wollten oder nichts, dachte er. Christliche Priester hatten Mittel, ihre Gläubigen zum Werk Gottes zu überreden, das wußte er. Viele Mittel.
Und hier würde er mit ziemlicher Sicherheit Priester finden. Während es an anderen Kirchen keine Seelenhirten mehr gab, würde dieses Kronjuwel Frankreichs von ihnen überlaufen sein. Er beneidete die Pfarrkinder nicht.
Er überquerte den weiten, offenen Platz, umging die allgegenwärtigen Tauben und fragte sich kurz, wieso man sie noch nicht gefangen und gegessen hatte. Durch die weichen Sohlen seiner Lederstiefel spürte er jeden Kopfstein, und aus der Nähe ragte die Kathedrale immer höher auf. Ihn fröstelte, als er in ihren Schatten trat, und er fühlte sich bedrückt, als streckte der christliche Gott seine Hände vom Himmel herab und lasse sie auf seine Schultern fallen. Auf einmal waren die Steine unter seinen Füßen kalt, und er blieb stehen.
Der erhabene Gleichklang singender Stimmen drang aus der offenen Tür der Kathedrale. Alejandro stand still und lauschte. Trotz seines Mißtrauens gegen das Christentum ließ er die fesselnden, harmonischen Töne in seine Seele dringen. Warum war ihre Musik so verdammenswert schön, während alles andere nur verdammenswert war? Seine geliebte Adele hatte oft unter ihrem Bann ihre Sünden gebeichtet, und einmal, als er auf sie gewartet hatte, hatte selbst er die hypnotisierende Wirkung der sehnsüchtigen Klänge verspürt.
Aber jetzt wartete er nicht auf ein reuiges Beichtkind, und er würde es nicht zulassen, daß die Musik ihn
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