Beobachter
Richtung Bar, während Gillian ihren Mantel auszog, ihn über die Stuhllehne hängte und sich setzte. Es tat gut, hier zu sein. Gut, sich ausgeheult zu haben. Sie nahm ihren Handspiegel aus der Tasche und begutachtete ihr Gesicht. Sie sah ziemlich verweint aus, hatte eine fleckige Haut, geschwollene Augenlider. Eine rote Nase.Das hatte sie wieder einmal gut hinbekommen. Typisch Gillian. Schaffte es, mit einem wirklich begehrenswerten Mann in einer Kneipe zu landen, aber sah dabei aus wie ein verheultes Schulmädchen. Genau genommen wäre das Schulmädchen noch die bessere Variante gewesen.
Ich sehe mindestens zehn Jahre älter aus, als ich bin, dachte sie resigniert, und wirklich nur wie eine Frau, mit der man Mitleid haben kann.
Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen in der Hoffnung, den Eingang zur Toilette zu entdecken. Vielleicht würde ihr ein wenig kaltes Wasser im Gesicht helfen. Wegen der vielen Menschen, die zumeist in Gruppen beieinanderstanden, war es schwierig, die örtlichen Gegebenheiten genau zu erkunden. Ihre Augen blieben plötzlich an einem Mann hängen, der ihr bekannt vorkam. Jünger als sie, höchstens Mitte dreißig. Er saß mit einem anderen Mann vor einem Bierglas und starrte zu ihr hinüber. Gillian war sicher, dass sie ihn kannte, brauchte aber einige Sekunden, um ihn einordnen zu können. Dann fiel es ihr ein: Er wohnte in derselben Straße wie sie, nur ganz am anderen Ende. Zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwägerin. Den Bruder hatte Tom einmal in einer Nachlassgeschichte beraten und nachher gesagt, es handele sich um etwas eigenartige Leute. Unsicher lächelte sie zu ihm hinüber. Na wunderbar! So viel zu dem Thema, dass sie hier bestimmt keine Bekannten treffen würde. So konnte man sich irren. Nun saß sie völlig verweint mit einem Mann, der nicht ihr eigener war, an einem Freitagabend in einer Kneipe und traf prompt auf einen Nachbarn. Manchmal waren die Dinge wirklich wie verhext.
Der junge Mann lächelte schüchtern zurück. Er wirkte erstaunt. Wahrscheinlich konnte man ihm das nicht verdenken.
John Burton kehrte an den Tisch zurück, bewaffnet mit zwei großen Schnapsgläsern. »Ging nicht schneller«, sagte er bedauernd und nahm ihr gegenüber Platz. »Haben Sie sich schon akklimatisiert?«
»Ja. Und festgestellt, dass ich wirklich furchtbar aussehe. Tut mir leid.«
»Wir hatten uns doch geeinigt, dass Sie sich nicht mehr entschuldigen.« Er hob das Glas. »Auf Ihr Wohl!«
Sie nahm einen tiefen Schluck. Und dann gleich noch einen. Der Schnaps brannte in ihrer Kehle, sandte Hitzewellen durch ihren Magen. Wahrscheinlich war es falsch, ihn zu trinken. Vor allem in dieser Menge. Das war kein doppelter Schnaps, das war mindestens ein vierfacher. Und sie hatte den Tag über wenig gegessen. Sie würde nachher ihre Tochter abholen und mit ihr im Auto nach Hause fahren und dabei angetrunken sein, aber sie schob ihre Bedenken zur Seite und nahm den nächsten Schluck. Für den Augenblick wollte sie nur die Entspannung, die der Alkohol ihr gab. Den Abstand zu allen Dingen. Zu den Sorgen und Ängsten und zu ihrer Traurigkeit.
»Möchten Sie… möchten Sie über Ihren Kummer reden?«, fragte John nach einer Weile.
Warum eigentlich nicht?
»In wenigen Worten«, sagte sie, »meine Tochter lehnt mich ab, weil sie sich von mir gegängelt und bevormundet fühlt, und mein Mann nimmt mich nicht mehr wahr. Wahrscheinlich also einfach das Übliche.« Sie versuchte zu lachen.
John Burton stimmte nicht ein, sondern blickte sie nachdenklich an. »Über Ihren Mann kann ich nichts sagen. Aber Ihre Tochter kenne ich zumindest ganz gut. Ich mag Becky. Sie ist sportlich, ehrgeizig und hat Teamgeist. Sie ist stark und unabhängig im Wesen. Klar, sie ist auch eigenwillig und manchmal schwierig. Aber möglicherweise macht sie gerade eine problematische Phase durch und verletzt dabei vor allem den Menschen, der ihr am nächsten steht. Sie sollten sich nicht zu viele Sorgen machen: Das kommt alles wieder in Ordnung.«
Überrascht von der Klarheit, mit der er das sagte, fragte sie: »Sicher?«
Er nickte. »Darauf würde ich wetten.«
»Danke«, sagte sie, fasziniert davon, dass er es tatsächlich geschafft hatte, ihr mit wenigen Sätzen ein Gefühl größerer Leichtigkeit zu verschaffen. Es war nicht so, dass alles schlagartig in Ordnung gekommen wäre, aber es ging ihr zweifellos besser. Er hatte sie ernst genommen und dennoch versucht, sie zu trösten. Anders als Tom, der meistens
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