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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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und Pfeffersprayer schon voraus? Ein reines Gewissen, ja, möglicherweise. Aber selbst da war ich mir nicht sicher.
    Zwei Frauen schoben sich ins Blickfeld.
    Die jüngere von beiden schob einen Rollstuhl. Die ältere saß in dem Rollstuhl. Sie steuerten auf den Eingang der Villa zu, hielten davor, und während die junge Frau umständlich nach einem Schlüssel in ihrer Hosentasche kramte, hatte ich Gelegenheit, beide in aller Ruhe zu mustern. Die mit dem Schlüssel war ein schlankes, attraktives Mädchen um die 25, mit schulterlangen braunen Haaren, weit auseinanderliegenden Augen und einem schnippischen Gesicht. Fräulein Tochter vielleicht oder eher die Enkelin. Jetzt hustete sie mehrmals kräftig; schien sich verschluckt zu haben. Beim Husten wurde ihr Gesichtsausdruck ärgerlich, sie runzelte die Stirn, und das machte sie nur noch hübscher. Sieh an. Ein Hustenanfall zur rechten Zeit, und jeder Mann im heiratsfähigen Alter würde sich darum reißen, ihr ein Taschentuch zu spendieren. Oder einen Drink. Wenn sie das wusste – und ich wette, sie wusste es –, dann brauchte sie sich um abendliche Zerstreuungen nicht zu sorgen.
    Und die andere?
    Der konnte man solche Komplimente nicht machen. Zumindest nicht mehr. In ihren Gesichtszügen hallte eine Ahnung von verblühter Schönheit nach, mit kerzengerader Haltung mühte sie sich um einen Rest verwitterter Würde. Mehr Positives ließ sich beim besten Willen nicht über diese Person sagen. Leichenblass hockte sie in dem Rollstuhl, wächsern, starr, bewegungslos, ausdruckslos, eine Vogelscheuche aus Marmor, die knochigen Hände um die Armlehnen gekrampft. Gelblichweiße Haare und ein wie zum Hohn bunt geblümtes Sommerkleid, auf dem eine Perlenkette schimmerte. Gegen sie war der Tote vom Friedhof ein Karnevalsprinz, mein Albino ein Partylöwe. Sie schien nicht einmal zu atmen.
    Zugegeben, zwischen mir und den beiden Frauen lagen mindestens 30 Meter; halb hinter Sträuchern verborgen, erahnte ich die entscheidenden Details eher, als dass ich sie wahrnahm. Vielleicht bildete ich mir das hübsche Stirnrunzeln der Jungen nur ein, vielleicht bemerkte ich auch die Perlenkette der Alten erst viel später. Aber eines weiß ich ganz gewiss: Als ich diese Frau im Rollstuhl zum ersten Mal sah, lief mir ein Schauer über den Rücken. Selbst aus 30 Metern Entfernung wirkte die Behinderte so charmant wie eine Mumie: erloschen, vertrocknet, eingefallen, verstummt. Sie hätte bei Madame Tussaud anheuern können.
    Und dagegen die blühende Jugend! Ein seltsames Paar. Falls es sich bei dem Mädchen um die Enkelin handelte, so sah sie ihrer Großmutter überhaupt nicht ähnlich. Aber wer ähnelte mit 25 schon einer lebenden Leiche?
    Endlich hatte die Brünette den Schlüssel gefunden. Sie öffnete die Tür weit und schob den Rollstuhl ins Haus. Keine der Frauen sprach ein Wort; bei der Alten rechnete man auch gar nicht damit, dass eine einzige Silbe über ihre trockenen Lippen kommen könnte.
    Die Tür wurde geschlossen. Stille lag über dem abendlichen Gelände, nicht einmal die Vögel sangen. Ich stand am Zaun, die Hände um die Gitterstäbe gelegt, und knabberte an meiner Unterlippe.
    Komisch, ein kurzer Auftritt nur, aber er zeigte Wirkung. Mein ursprünglicher Elan war dahin. Um mich einmal einer ungewohnten Ausdrucksweise zu bedienen: Es kam mir vor, als sei ich Gevatter Tod persönlich begegnet. Nicht dem grinsenden Sensenmann aus mittelalterlichen Totentänzen, sondern dem des 20. Jahrhunderts, dem bösen Geist der Intensivstationen und Sterbezimmer. Dem überarbeiteten, ausgemergelten Medicus in lindgrüner Montur, der nach Desinfektionsmittel roch, der Kanülen legte und Herzkatheter und Bypässe. Und der nur so, aus Spaß und aus Dienstbarkeit gegenüber seinen allmächtigen Apparaturen, Maschinen und Geräten, auch diese plastinierte Frau, ihre Handvoll Knochen und Adern, ihre müde pulsierenden Organe zusammenhielt. Auf dass sie ewig dahinvegetierte, den Blick starr geradeaus, unbeeindruckt von der rumpelnden Fahrt im Rollstuhl ...
    Solch düstere Gedanken passten gar nicht zu mir. Da war diese Frau, sicher, aber da waren auch noch Bäume, Vögel, Tiere, ein kleiner Teich, der Wald, der sich weiter hinten den Heiligenberg hinaufzog, und da waren meine beiden warmen Hände, die sich um die Gitterstäbe klammerten. Ich schüttelte mich, atmete tief durch, dann schritt ich die mannshohe Umfriedung ab, bis ich eine günstige Stelle zum Überklettern fand. Es ging ganz einfach,

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