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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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warf ihre Haare zurück. »Aber er ist realistischer als du.«
    »Wie bitte? Realistischer?«
    Moment mal. Das war ja etwas ganz Neues! Hielt sie mich jetzt für einen Träumer? Man kann mir viel Schlechtes nachsagen ... aber mangelnden Realismus?
    »Ja, realistischer«, sagte sie, legte den Kopf zur Seite und zupfte an ihrer Nase herum.
    Ich hörte nur das eine Wort und übersah die Zeichen der geplanten Provokation. Ihre nach hinten geworfenen Haare, das Nasezupfen, der zur Seite geneigte Kopf: lauter unschuldige Bewegungen, die nichts anderes waren als flankierende Maßnahmen eines Überrumpelungsangriffs. Im Grunde war mir das klar. Aber ich musste es vergessen haben oder war unaufmerksam. Sie wollte mich aus der Reserve locken, meine Exfrau, und sie erreichte ihr Ziel mühelos.
    »Was soll das, Christine?«, sagte ich ärgerlich. »Ich kenne niemanden in ganz Heidelberg, der realistischer ist als ich. Niemanden, der einen Beruf hat, bei dem man dermaßen mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen bleiben muss. Ich bin nun wirklich der Letzte, der als Tagträumer durch die Welt läuft.«
    Sie drückte stumm ihre Kippe im Aschenbecher aus. Natürlich, das waren keine Argumente für sie. Meinen Beruf hatte sie nie für voll genommen, genauso wenig wie alle meine anderen Pläne und Schnapsideen. Aber was konnte ich dafür? War das nicht ihr Problem?
    »Kannst du mir vielleicht mal sagen«, fuhr ich gereizt fort, »wann es mir jemals an Realitätssinn gefehlt hätte? Immerhin war ich derjenige von uns beiden, der sich keine Illusionen mehr über unser Zusammenleben gemacht hat.«
    Sie schüttelte den Kopf und griff wieder zu ihren Zigaretten. »Weißt du, Harald hat ein gutes Gespür für gegenseitige Abhängigkeiten. Dafür, was er von mir erwarten darf und was nicht. Das meine ich mit realistisch. Bei ihm habe ich das Gefühl, von seinen Ansprüchen nicht verformt zu werden. Oder sagt man deformiert?«
    Deformiert! Harald! Es wurde immer besser. Schien ja ein außerordentlich Behutsamer zu sein, dieser unsägliche Harald. Außen Handballer, aber ein Herz wie eine Okraschote. Pah! Ich gönne meiner Christine von ganzem Herzen einen Kerl, der ihr gibt, was ich ihr nicht geben konnte, einen, der sie in Ruhe ihr kleines Leben führen lässt. Aber doch nicht so einen durchtrainierten Seelenmasseur, einen Verständnisapostel, der sie an Feinfühligkeit links überholte!
    Außerdem, was sollte das heißen: verformt? Falls es auf mich gemünzt war, dann kapierte ich es nicht. Früher hatte sie mir das Gegenteil vorgeworfen: dass ich keine Nähe aufkommen ließe, dass es mir an Ernsthaftigkeit mangele, dass sie sich austauschbar fühle. Dies waren, glaube ich, ihre Worte. Und jetzt dieser Deformationsquatsch. Ich sagte es ihr.
    »Ja, mag sein«, gab sie zu. »Vielleicht ... vielleicht widerspricht sich das gar nicht. Wenn man sich mit aller Macht vom anderen Nähe erarbeiten will, rückt man die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund. Man folgt den Spielregeln des anderen, man verformt sich.«
    »Aber wer hat dich denn gezwungen, nach meinen Regeln zu spielen?«, fragte ich entnervt. »Ich sicher nicht! Du hättest nach deinen eigenen Regeln spielen können, jederzeit.«
    »So ist das nun mal, wenn man zu zweit ist«, sagte sie leise.
    Wütend schüttete ich meinen Wein hinunter, in einem Zug.
    Nun waren wir wieder in der Sackgasse angelangt. Hier hatte es am Ende unserer Ehe nur noch triste Shoot-outs gegeben, Duelle ohne Sieger, mit stumpfer sprachlicher Munition: Worthülsen, die nicht trafen und dennoch Wunden hinterließen. Immer wieder kam es so weit, auch jetzt noch, Jahre danach.
    Sie seufzte und schwieg. Auch sie wusste, wie unnütz es war weiterzureden. Eine Weile herrschte wohltuende Stille, in der ich in mein leeres Weinglas und sie auf die glimmende Zigarettenspitze starrte. Der Kellner kam, wollte sich, stumm wie immer, nach unseren Wünschen erkundigen, sah uns in unserem Monadendasein und schlich dezent vorbei.
    Schließlich war es Christine, die das Schweigen beendete.
    »Und du? Hast du eine Neue?«
    »Keine Sorge«, winkte ich ab. »Nichts in Sicht.«
    Sie ließ sich nichts anmerken, aber ich hörte das Geröllfeld von ihrem Herzen plumpsen.
    »Und warum nicht?« bohrte sie weiter.
    Warum nicht? Warum? Was sind das für Fragen? Hätte ich antworten sollen: Na, hör mal, nach den Erfahrungen mit dir? Ich habe keine Freundin, Punkt. Und ich vermisse auch keine. Punkt.
    »Du hattest überhaupt noch

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