Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
Höhe.
Stettler machte einen hilflosen Eindruck. Der Mann, der sonst immer wusste, wie vorzugehen war, stand vor dem Schrein und starrte in die Nische. Dann drehte er sich um. Er schien sich wieder gefasst zu haben. »Ich werde dem persönlich nachgehen. Ich bitte Sie jetzt trotzdem, in den Tunnel zu gehen und Ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Falls die Barbara bis morgen nicht auftaucht, werde ich für Ersatz sorgen.«
»Und der Pfarrer?«
»Sie wird selbstverständlich eingesegnet.«
Einer der Männer schüttelte den Kopf, dann setzte er seinen Helm auf und ging Richtung Tunnel. Ein anderer schlug mit dem Bein gegen eine Karrette, ein dritter setzte sich demonstrativ im Schneidersitz auf den Boden. Stettler winkte zwei Poliere zu sich. »Ich gebe euch fünf Minuten, dann habt ihr die Männer im Tunnel.«
Die beiden schwärmten aus, riefen ihre Männer zusammen. In einer der Gruppen sah Julia Sandro. Er trug lediglich eine orange Latzhose und ein rotes Halstuch. Auf seinem Oberkörper vermischte sich der Schweiß mit den Spuren des Tunnels. Als er sie bemerkte, schaute sie schnell weg.
Julia verließ den Tunnel. Draußen war es etwa gleich heiß wie drinnen, nur dass jetzt auch noch die Sonne herunterbrannte. Sie setzte sich in den Schatten einer Föhre und zog ihr Handy aus der Tasche. Der Zoll habe das Ersatzteil soeben freigegeben. Wieso das so lange gedauert habe, wollte Julia wissen. Der Mann zählte irgendwelche Einfuhrparagrafen auf, die ihr nichts sagten.
Julia beobachtete Stettler. Er sprach mit dem Arbeiter, der auf dem Boden saß und sich immer noch weigerte, in den Tunnel zurückzukehren. Er hockte sich zu ihm, sprach weiter auf ihn ein. Dann klopfte er ihm auf die Schultern, der Mann stand auf.
Sie schaute auf die Uhr. Es war bereits später Nachmittag. Sollte sie es nochmals bei Jan versuchen? Wieso meldete er sich nicht? War sie diesmal wirklich zu weit gegangen? Sie stellte sich vor, wie er neben dem Handy saß, zuschaute, wie es klingelte, sich mit Tom über sie lustig machte. Sie steckte das Handy wieder ein. Da hörte sie Stettler rufen. Er stand vor einem Auto und bedeutete ihr einzusteigen. Der renitente Arbeiter war nicht mehr zu sehen.
Er schließt die Tür ab, dann zieht er die Vorhänge zu, stellt die Statue auf den Nachttisch.
»Jetzt gehörst du mir. Mir allein.«
Er nimmt das rote Grablicht, das er auf dem Friedhof in einem Abfalleimer gefunden hat, und stellt es neben die Statue. Die Kerze ist nur zur Hälfte niedergebrannt. Die Schachtel liegt bereits auf dem Nachttisch. Er klaubt ein Zündholz heraus, reibt es an der rauen Fläche. Seine Hände zittern, er ist nervös. Die Flamme erlischt. Er flucht, versucht es noch einmal. Es klappt. Ein warmes rotes Licht. Er streicht der heiligen Barbara über den Kopf.
Das Ersatzteil wurde am nächsten Morgen geliefert. Julia baute es sofort ein. Stettler stand neben der Maschine und schaute zu. Sie war nicht sicher, ob er sich um sie sorgte oder ihr nicht zutraute, Marta wieder zum Laufen zu bringen.
»Kommen Sie auch mit zur Weihung?«, fragte Stettler, als sie fertig war.
»Welche Weihung?« Julia strich sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht.
»Der Pfarrer kommt um einundzwanzig Uhr zum Schichtwechsel ins Südportal, die neue Barbara wird eingeweiht.«
»Heißt das, Sie haben sie nicht gefunden?«
»Nein. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»Oder vom Berg«, verbesserte ihn Julia.
Es war nicht schwierig zu erraten, wer zu welcher Schicht gehörte. Die einen standen mit verschmierten, fett glänzenden Gesichtern da, die anderen in sauberen Overalls. Ein paar hatten sogar ein weißes T -Shirt angezogen. Der Pfarrer stand neben dem Schrein und begann zu beten. Die Arbeiter hatten ihre Helme abgezogen und hielten das Haupt gesenkt. Ein älterer Arbeiter ließ einen Rosenkranz durch die Finger gleiten.
Julia schielte zu Stettler. Er hatte die Hände gefaltet. Sie legte ihre Hände übereinander. Sie beteten das Vaterunser. Julia wusste nicht, wann sie das letzte Mal gebetet hatte. Sie musste damals noch ein Kind gewesen sein. Mit Gott hatte sie es nicht so. Dafür gab es zu viel Ungerechtigkeit auf der Welt. Julia glaubte eher an Ursache und Wirkung.
Der Pfarrer hielt die Hand über die Statue und begann mit der Segnung. »Segne dieses Bild der heiligen Barbara. Lass auf ihre Fürbitte uns im Vertrauen auf deine Vorsehung wachsen und getrost unsere Wege gehen durch Christus unseren Herrn.«
Ein Mann
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