Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
Julia wollte ihr die Urne abnehmen, doch Maria gab sie nicht her. Alle fünf Minuten hielt Julia an und wartete. Marias Lippen wurden immer blauer. Julia befürchtete, sie würde jeden Moment umkippen. Endlich sah sie eine Hütte. Das musste die Alp Novai sein.
Julia stieß einen Jauchzer aus und setzte sich auf die Bank vor dem Holzhäuschen. Der Ausblick war überwältigend. Jetzt konnte sie Antonio verstehen.
Maria blieb kurz stehen, um wieder zu Luft zu kommen, dann nahm sie die letzten Meter und ließ sich neben Julia nieder.
»Hier waren wir immer, wenn wir für uns sein wollten«, sagte Maria und blickte in die Weite. Der gegenüberliegende Berg lag nun schräg unter ihnen.
»Die Berge sind schön, wenn man oben ist«, sagte Julia.
»Dass sie dir unten im Tal im Weg stehen, ist der Preis für die Aussicht.« Maria machte eine Pause, um Luft zu holen. »Doch man kann sie auch bezwingen.«
Julia lachte.
»Ich meinte natürlich nicht, indem man sie durchbohrt.«
»Ich habe schon verstanden.« Julia stellte sich den Tunnel unter ihr vor. Wenn es so weiterging, würde es noch Monate dauern, bis sie unter der Alp Novai waren. Sie konnten nur hoffen, dass es mit dem Sprengvortrieb aus dem Norden vorwärtsging.
Maria nahm die Urne, die sie neben sich auf die Bank gestellt hatte, auf die Knie und fuhr mit der Hand über den Deckel. »Ich glaube nicht an einen Unfall«, sagte sie leise.
»Und wieso?«
»Da war etwas. Ich kann es nicht genau sagen. Aber Antonio hat sich Sorgen gemacht.«
»Sorgen? Worüber?«
»Das weiß ich nicht. Er wollte es mir nicht sagen. Aber irgendetwas beschäftigte ihn. Einmal hat er gesagt, er würde gerne etwas ungeschehen machen.«
»Ungeschehen? Was?«
»Keine Ahnung, ich überlege mir das auch schon die ganze Zeit. Und manchmal kam er mir richtig fremd vor.« Maria verscheuchte eine Fliege, die sich auf der Urne niedergelassen hatte. »Am Tag vor seinem Tod habe ich ihn gefragt, ob wir an seinem freien Tag spazieren gehen. Da hat er so seltsam reagiert. Das war nicht seine Art. Richtig schroff. Er habe bereits etwas vor. Ich dachte, es sei eine andere Frau.« Sie schwieg und schaute Julia lange an.
»Du meinst mich?«
Maria nickte.
»Ich und Antonio?« Julia lachte.
Maria blieb ernst. »Das ist doch nicht so abwegig, oder?«
Julia griff nach Marias Hand. »Ich habe ihn gern gemocht. Das war alles.«
Eine Träne kullerte über Marias Wange. Sie stand auf, nahm die Urne unter den Arm, befeuchtete einen Finger und hielt ihn in die Höhe. Sie hob den Deckel ab und legte ihn auf die Bank. Dann ging sie ein paar Schritte bis dort, wo der Berg steiler abfiel. Sie hielt inne und murmelte etwas vor sich hin, das Julia nicht verstand. Dann streute sie die Asche in den Wind. Einige Klumpen fielen zu Boden, der feine Staub wurde aufgewirbelt und glitzerte in der Sonne. Als die Urne leer war, schaute Maria eine ganze Weile ins Tal. Dann drehte sie sich plötzlich um und sagte: »Gehen wir?«
Jan lag auf dem Rücken und lauschte mit geschlossenen Augen der Brandung. Den Wellen, die an Land geworfen und wieder zurückgezogen wurden. Von nebenan kam leises Schnarchen. Tom musste eingeschlafen sein.
Plötzlich zog ein dunkler Schatten über ihn hinweg. Dann hörte er einen Aufprall. Er öffnete die Augen, setzte sich auf. Tom war wach und rieb sich die Nase. Neben ihm lag ein roter Ball. Ein kleines Mädchen kam herbeigerannt, blieb kurz stehen, schaute die beiden Männer an, nahm den Ball und lief zu seiner Mutter. Diese winkte ihnen entschuldigend zu.
»Schon süß, so ein Kind«, meinte Tom. Blut rann aus seiner Nase. Jan reichte ihm ein Taschentuch. Tom wollte sich gerade wieder zurücklehnen.
»Du musst dich hinsetzen, nicht liegen«, wies Jan ihn an. »Und den Kopf nach unten halten.«
»Blödsinn, dann läuft ja alles Blut heraus.«
»Das soll es auch.« Er bog Toms Kopf nach vorne.
»Du willst mich doch nur bluten sehen.«
»Und nun drückst du die Nasenflügel gut zusammen. Fünf bis zehn Minuten lang.«
»Das ist aber keine bequeme Haltung.«
»Ich hole dir an der Bar etwas Eis für den Nacken.« Jan erhob sich.
»Wie bitte? Endlich ist es mal schön warm, und du willst mich in Eis packen?« Tom hob den Kopf und schaute Jan vorwurfsvoll an.
»Den Kopf nach unten und die Nase zuhalten!«, befahl Jan.
»Schön, wenn man immer die richtige Person dabeihat.«
»Den Erste-Hilfe-Koffer habe ich leider im Hotel stehen lassen.« Jan lachte.
»Schon gut«,
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