Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
er so unvorsichtig gewesen war und was er sich dabei gedacht hatte. Vielleicht wollte er auch nicht. Sie hatten nur ein paar Worte gewechselt, und er hatte sie dabei nicht einmal angeschaut. Aber es war auch egal. Hauptsache, Marta lief wieder.
Sie hatte ihr Handy mitgenommen, in der Hoffnung, Jan würde sich melden. Doch da war nichts. Sie wanderte den Berg hoch, über dicke Wurzeln, der Boden war stellenweise mit Lärchennadeln vom Vorjahr übersäht. Vor einem Ameisenhaufen blieb sie stehen. Die Tiere krabbelten wild durcheinander, ziellos. So schien es ihr jedenfalls. Doch sie wusste, dass dem nicht so war. Jede Ameise hatte ihre Aufgabe, was hier so chaotisch aussah, war in Wahrheit ein ausgeklügelter Plan. Es erinnerte sie an eine Tunnelbaustelle. Hier war auch nicht immer ersichtlich, wieso ein Arbeiter nun dies oder das tat. Doch am Schluss war das Loch gebohrt.
Gab es doch einen größeren Zusammenhang, einen Plan hinter allem, der nichts dem Zufall überließ? Wie hier die Muster, Regeln und Abläufe, die für Außenstehende nicht ersichtlich waren?
Sie kauerte sich hin und versuchte einer Ameise zu folgen, was in dem Getümmel recht schwierig war. Immer wieder verlor sie das Insekt beinahe. Es kreuzte andere Ameisen, krabbelte über sie hinweg oder wurde überrannt, dann verschwand es unter einem Blatt und kam wieder hervor. Ob es wirklich dasselbe war? Julia war sich nicht sicher.
Plötzlich hörte sie Geräusche hinter sich. Ein Hund kam hinter einem Busch hervorgeschossen, sprang auf sie zu, fuhr mit der Zunge über ihre Wange, Julia sprang auf. Dann schnüffelte er im Ameisenhaufen herum, machte einen Satz, und schon war er wieder fort. Julia hörte jemanden pfeifen, dann den Hund loben. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Wange ab, sah wieder zu den Ameisen. Der Hund musste mit seiner Pfote mitten in den Haufen gestapft sein. An einer Seite glich er eher einem Steinbruch. Weiße Eier lagen überall herum. Die Ameisen sammelten sie ein und brachten sie in Sicherheit, nach ein paar Minuten war alles wieder aufgeräumt.
Aber war dieser Hund nun auch Teil des Plans? Wohl kaum. Da war ein Hund, eine Pfote, Ursache und Wirkung. Reiner Zufall. Kein Plan. Keine Vorbestimmung. Dies hieß aber auch, dass jeder für sich selber entscheiden konnte oder musste und für sein eigenes Leben verantwortlich war.
Und wie war ihr Plan? War es derselbe, den Jan hatte? Wie weit würde sie gehen, um mit ihm gemeinsam durchs Leben zu gehen?
Sie hatte nie Kinder gewollt. Als ihre Freundinnen von Puppenstuben schwärmten, spielte sie mit den Buben mit der Holzeisenbahn. Sie konnte sich nicht als Mutter vorstellen. Eingesperrt in einer Wohnung, mit anderen Müttern auf dem Spielplatz. Und auch wenn Jan versprach, seinen Beitrag zu leisten – in ihrem Bekanntenkreis waren alle gescheitert. Doch als Frau keine Kinder zu wollen war wie ein wasserscheuer Fisch.
Bedeutete das nun das Ende für ihre Beziehung? Sie setzte sich auf eine Bank und schaute ins Tal. Eine Felswand schwang sich hinter ihr in die Höhe. Unten sah sie die Baustelle, die Baracken, die Kantine, das Tunnelportal. Wie ein kleines Dorf lagen sie da unten, eine Miniwelt. Und Stettler war der Präsident. Sie nahm ihr Handy hervor. Was sollte sie Jan noch schreiben? Dass sie Angst hatte, ihn zu verlieren? Dass sie ihn gebraucht hätte?
Ein Stein kullerte neben ihr in die Tiefe. Natürliche Erosion, dachte sie, die Berge neigen sich dem Tal zu. Wenn das ewige Eis so weiterschmilzt, wird bald noch mehr herunterkommen. Ob die Erde irgendwann mal topfeben sein wird?
Aus dem Augenwinkel nahm sie einen Schatten wahr, der sich bewegte. Sie drehte den Kopf, sah aber nichts. Vielleicht ein Vogel? Sie schaute wieder aufs Tal hinunter. Sah ein Auto, das Richtung Dorf fuhr. Ein paar Leute standen vor der Kantine. Ob Sandro auch schon aus dem Tunnel zurückgekehrt war?
Sie hörte hinter sich Steine rieseln, zuerst ein paar wenige, dann immer mehr. Sie drehte sich um. Eine Steinlawine rollte auf sie zu.
Maria stand mit ein paar Arbeitern vor der Cantina Tschiervi und rauchte. Einer hatte eine Flasche Wein dabei und ließ sie zirkulieren. Die Arbeiter machten einen Witz nach dem anderen. Es war der letzte Abend vor ihrem Zehntage-Urlaub.
Einer, der bereits etwas angetrunken war, fragte Maria, wo denn ihre hübsche Freundin sei.
»Welche Freundin?«, fragte Maria zurück.
Der Mann verzog das Gesicht. »Na, die Deutsche!«
»Ach so. Keine Ahnung.«
»Die Frage ist
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