Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
doch, wo Sandro ist«, sagte ein anderer. Seine beiden Oberarme waren von Tattoos übersät.
Alle lachten.
»Was ist denn das?«, fragte einer und zeigte den Berg hoch.
Nun sah es Maria auch. Direkt oberhalb der Baustelle kollerten ein paar Steine den Berg herunter. Eine kleine Staubwolke hatte sich gebildet.
»Da muss sich ein Stein gelöst haben.«
»Steine lösen sich nicht einfach so«, sagte Maria.
»Vielleicht war es ein Steinbock?«
»Oder ein anderer Bock?«
Die Männer lachten.
Julia fröstelte, obwohl es immer noch warm war. Die Steine waren mit riesiger Wucht in die Tiefe gestürzt. Sie hatte im letzten Augenblick zur Seite springen können.
Sie starrte noch immer in die Tiefe. War das ein Zufall? Oder hatte es wirklich jemand auf sie abgesehen? Der Lastwagen im Tunnel, der Zettel mit dem Hirschkäfer, der Zettel in ihrer Hosentasche. Jemand musste sie auf Schritt und Tritt beobachten. Wollte, dass sie ging. Aber wieso? Damit der Tunnel nicht fertig wurde? Weil Frauen im Tunnel nichts zu suchen haben? Oder ging es um sie persönlich? Sollte sie zur Polizei gehen? Sie dachte an die Polizistin, die ihr die Visitenkarte gegeben hatte. Aber was sollte sie denen sagen? Dass sie sich bedroht fühlte, Angst hatte? Hatten nicht alle Angst, die in einem Tunnel arbeiteten? Gehörte das nicht ein Stück weit dazu?
Jan. Sie hätte gerne mit ihm gesprochen. Vielleicht sollte sie nochmals versuchen, ihn anzurufen. Doch da war noch das mit Sandro. Würde sie ihr schlechtes Gewissen nochmals überspielen können? Vielleicht sollte sie sich Sandro anvertrauen. Oder Maria? Aber die war nicht gut auf sie zu sprechen. Am besten, sie würde morgen einfach abreisen, nach Hause fahren. Schließlich hatte sie ihren Auftrag erledigt.
Sie griff nach ihrem Handy, da war eine SMS von Jan gekommen. Sie drückte auf Zeigen .
Ich habe mit einer anderen Frau geschlafen. J. Mehr stand nicht da. Julia setzte sich hin. Sie wusste nicht, was sie mehr enttäuschte. Der Inhalt der Botschaft oder die Art, wie sie Jan überbrachte.
Hätte er ihr das nicht gestern Abend ins Gesicht oder besser ins Ohr sagen können? So ein Feigling! Am liebsten hätte sie ihr Handy ins Tal geschmettert. Doch sie brauchte es noch. Wie konnte er nur. Sie griff nach einem Ast, der am Boden lag, und schlug damit auf einen Stein. Der Ast zerbrach. Sie stand auf, ging zur nächsten Tanne und trat dagegen, zuerst mit dem Fuß, dann mit den Händen. Sie schlug auf die raue Oberfläche, bis die Handflächen schmerzten. Dann sank sie auf die Knie, rollte sich zusammen und begann zu weinen.
Es war schon beinahe dunkel. Bereits von Weitem sah sie ein paar Männer draußen vor dem Trakt A stehen und rauchen. Um in ihr Zimmer zu gelangen, musste sie an ihnen vorbei. Sie wollte niemanden sehen. Sie musste scheußlich aussehen, wenn sie so aussah, wie sie sich fühlte. Ihr Gesicht war sicher rot und aufgequollen. Aber sollte sie wirklich warten, bis die Männer fertig geraucht hatten und verschwanden? Das war ihr zu blöd. Sie ging an der Gruppe vorbei, grüßte und lief schnell weiter. Die Männer grüßten zurück. Nur einer nicht. Er starrte auf seine Stiefel. Sandro.
Verletzter männlicher Stolz, dachte Julia.
Datum: Donnerstag, 12. Juli 2012 23:38
Betreff: Polizei!
Lieber Levente,
heute sind zwei Polizisten vorbeigekommen und haben mit dem Chef gesprochen. Ich hab das Gespräch belauscht. Ob er eine seiner Frauen vermisse. Mein Chef hat Nein gesagt. Was denn mit der Frau sei, wollte er wissen. Sie gaben ihm keine Antwort.
Ich wäre gerne bei euch! Zu Hause!
Deine J.
Datum: Freitag, 13. Juli 2012 07:32
Betreff: Elena!
Liebster,
heute Morgen stand es in der Zeitung. Eine Kollegin hat es mir übersetzt. Eine Frau wurde in einer Felsspalte im Tunnel gefunden. Es hatte ein Bild dabei. Das ist Elena! Die Polizei weiß noch nicht, woran sie gestorben ist. Sie suchen Zeugen. Es ist alles so schrecklich. Ich möchte nach Hause kommen. Aber ich habe doch keinen Pass!
J.
Die Untersuchung der Bordelle hatte nichts ergeben. Im ganzen Kanton war auch keine Vermisstenmeldung eingegangen. In Zürich und Genf gab es ein paar wenige vermisste Personen, aber die entsprachen nicht dem Profil der Toten. Die Frau blieb eine Jane Doe, eine nicht identifizierte Person. Auch die versprochene Verstärkung aus der Hauptstadt ließ auf sich warten.
Franco hatte am Nachmittag alle Arbeiter und den Baustellenchef befragt, doch niemand schien etwas gesehen
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