Berlin Gothic 4: Der Versteckte Wille
… “ Till hob den Arm. „Das ist schon teuflisch deutlich: Dass ich mich frei dafür entscheiden kann, den Arm zu heben oder nicht - solange er nicht … was weiß ich … gefesselt ist.“
„Fang bloß nicht mit dem Arm an, und ob ich ihn heben kann“, mischte sich jetzt Malte ein, der die ganze Zeit über neben Henning stehen geblieben war und schweigend zugehört hatte. „Wir könnten drei Monate lang irgendwelche Argumente hin-und herwälzen, das führt zu nichts.“
„So?“ Till verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Argumente führen zu nichts? … Lass uns doch mal kurz annehmen, ich glaube, dass ich frei bin, old school sozusagen. Ich kann mich frei entscheiden, wie ich lustig bin. Davon bin ich nun einmal überzeugt. Ja? Und jetzt soll ich zu eurer Überzeugung übergehen: Also, dass ich mich da täusche. Dass es mir zwar so vorkommt , als ob ich frei wäre - dass ich es in Wirklichkeit aber nicht bin , nicht frei entscheiden kann. Was denn, wenn nicht Argumente , könnte diesen Umschwung in meiner Überzeugung denn bewirken?“
„Nein, sicher“, verteidigte sich Malte, dessen zierliches, hageres Gesicht jetzt in Bewegung geriet, „aber ich glaube, man muss aufpassen, dass man sich in diesen Argumenten nicht verliert. Letztlich läuft es ja darauf hinaus, dass man sich subjektiv für frei hält - dass es aber objektiv keine vernünftige Art gibt, eine Welt zu beschreiben, in der wir frei wären. Ganz einfach wird das, wenn man sich die Nervenzellen vorstellt: Wie sie feuern, wie ihr Feuern unser Handeln bestimmt … Angenommen, wir wären frei - und angenommen wir würden vor einer bestimmten Entscheidung stehen: Heiraten oder nicht, zum Beispiel.“ Er grinste. „Wie sollen wir uns das dann vorstellen? Alle Nervenzellen halten still, warten darauf, dass die Entscheidung gefällt wird? Und wo wird die dann gefällt? Oder besser gesagt: Wie können wir uns das Abwägen vorstellen? Entweder die Zellen feuern - aber dann ist kein Platz für diese merkwürdige Willensfreiheit. Oder sie halten still - und dann kann nicht abgewogen werden.“
„Und warum SCHEINT es mir dann so, als würde ich frei entscheiden?“
Malte lächelte. „Schon mal daran gedacht, dass es ein Mythos sein könnte, der uns erzählt wurde, um uns mit der Schuld zu gängeln?“
Till schluckte. Die Worte klangen in seinem Kopf nach.
„Erzählt, von wem?“
„Schwer zu sagen … “, entgegnete Malte. „Von den Schlauen, um die Starken zu besiegen?“
Till versuchte, ihm zu folgen, hatte aber das Gefühl, dass irgendetwas daran nicht stimmen konnte. Doch bevor er den Mund aufmachte, sprach Malte schon weiter. „Wie gesagt, Argumente für oder gegen - das ist … wie sagen die Engländer?“ Er schaute kurz zu Henning. „ Old hat , glaube ich. Spannend ist - das hat Henning ja schon angedeutet - was sich für Konsequenzen ergeben, wenn man einmal die Illusion durchschaut hat und dann danach handelt . Dann kommt das ganze System ins Rutschen.“
„Das System unserer Überzeugungen.“
Malte nickte. „Und es ist absolut nicht klar, welches neue System sich herausbilden wird. Denk zum Beispiel“, er hob die Stimme ein wenig, wie um Till daran zu hindern, etwas zu erwidern, „an Gut und Böse. Das ist mein persönliches Lieblingsthema dabei: Ich kann nicht frei entscheiden - also gibt es auch kein Gut und Böse mehr, richtig?“
Till überlegte.
„Es gibt nur noch persönliche Vor-und Nachteile“, fuhr Malte fort.
„Klingt, als sollte man sich warm anziehen, wenn sich das durchsetzt“, warf Till ein.
Malte breitete die Hände aus. „Finden Sie es moralischer, in der Lüge zu verharren?“
Wieder beschlich Till das Gefühl, dass irgendetwas daran nicht stimmen konnte - und er schaute kurz zu Max. Der hatte ebenfalls die Arme verschränkt, ohne sein Glas, das er wieder gefüllt hatte, loszulassen, und sah abschätzend zu Malte.
„Ich kann es mir ja nicht aussuchen“, antwortete Till schließlich und blickte ebenfalls zu Malte, „also können Sie mir auch keinen Vorwurf machen, wenn ich in der Illusion verharre.“ Duzen wir uns doch ein andermal, dachte er.
Malte lächelte, wodurch sich sein Gesicht auf eine Weise aufhellte, die Till instinktiv für ihn einnahm. „Wie gesagt - und ich werde nicht müde, das zu wiederholen“, entgegnete Malte, „solange man sich bei der Frage aufhält, ob man die Freiheit für eine Tatsache oder eine Illusion halten sollte, solange kommt man aus all den
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