Berlin Wolfsburg (German Edition)
Geld …«
»Ja, ich verstehe schon – kommen Sie mit.«
Sie ging voran in das kleine Zimmer, das Jörg sich vor Jahren im
Dachgeschoss ihres Reihenhäuschens in Berlin-Tempelhof ausgebaut hatte. Es war
eher eine Kammer, in die er sich zurückgezogen hatte, wenn er seine Ruhe haben
wollte – vor den Kindern und ihr, ihrem Gemecker, ihren vielen Fragen und all
den Ansprüchen, denen er nie vorhatte, gerecht zu werden. Sie schob die Tür
auf, und Stefan Muth trat sofort ein, um sich aufmerksam umzusehen.
Auf einem Regal stapelten sich neben einigen Aktenordnern und bunten
Kartons mit PC -Zubehör Motorrad-Zeitschriften und
Fachbücher zu unterschiedlichen Themen; auf einer schmalen Kommode stand ein
Fernseher, und auf der weinroten Couch im Fünfziger-Jahre-Look hätte Johanna
sich am liebsten gleich niedergelassen. Der winzige Schreibtisch unter dem
Dachfenster war mit Papieren übersät, die Marie noch nicht die Kraft gefunden
hatte, wegzuräumen, nachdem die Polizei sie durchgesehen hatte –
Versicherungskram, offizielle Schreiben, die man irgendwann abheftete und nie
wieder herausholte, Notizen.
Marie zuckte mit den Achseln. »Ehrlich gesagt kann ich mir überhaupt
nicht vorstellen …«
Stefan Muth drehte sich zur ihr um und trat plötzlich dicht an sie
heran. Sein Lächeln war wie weggewischt, und der charmante
Brad-Pitt-Ricky-Martin-Junge schien nie existiert zu haben. »Sie gehen jetzt
nach unten und lassen mich hier ganz alleine und in aller Ruhe suchen,
kapiert?«, sagte er in scharfem Ton.
Marie schnappte nach Luft. »Wie bitte? Aber …«
»Jörg hat eine Menge Mist gebaut, darüber sind wir uns einig, oder?«
Sie starrte ihn perplex an. »Schuldet er Ihnen auch Geld?«,
flüsterte sie dann.
»Der Mann schuldet mir alles Mögliche.«
»Aber wonach genau suchen Sie …«
Muth packte ihren Oberarm. Sein Griff war grob. »Wenn Sie keinen
Ärger wollen, dann gehen Sie jetzt. In einer halben Stunde sind Sie mich wieder
los, und es wäre eine richtig gute Idee, sich nicht an mich und meinen Besuch
zu erinnern, klar?« Er drängte sie aus dem Zimmer und schloss die Tür.
Marie blieb einen Augenblick entgeistert stehen. Was für eine
riesengroße Scheiße hast du verzapft?, murmelte sie stumm. Gut, dass die Kinder
nicht zu Hause waren und das miterleben mussten. Sie ging langsam, mit ungelenken
Schritten die Treppe hinunter und ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch
fallen. Minutenlang starrte sie ins Leere und wusste nicht, was größer war:
Schreck und Beklemmung oder Wut und Entsetzen.
Jörg hatte einen Haufen Wettschulden, das war ihr kurz vor seinem
Selbstmord klar geworden – dass sie nicht früher dahintergekommen war, lag
schlicht und ergreifend daran, dass er seine Leidenschaft eine ganze Weile gut
hatte finanzieren können beziehungsweise Gewinne und Verluste sich einigermaßen
die Waage gehalten hatten. Angeblich hatte er anfangs satt im Plus gelegen und
im letzten Jahr sogar das Motorrad finanzieren können, wie er ihr mit
stolzgeschwellter Brust versichert hatte. Was für ein Idiot! Aber dann war eine
Menge schiefgegangen, mehrere sogenannte tausendprozentige Tipps hatten ihn
dazu verführt, sich Geld zu leihen, die Konten zu überziehen, das Haus zu
belasten, Notfallreserven anzugreifen, kurzum, alles zu verspielen, was sie
sich in dieser Ehe im Laufe der Jahre zumindest an wirtschaftlicher Stabilität
erarbeitet hatten. Er hatte ihr versichert, dass er sich um alles kümmern
würde, und sie händeringend beschworen, ihm noch eine letzte Chance zu geben.
Doch sie hatte die Nase endgültig voll gehabt.
Als sie ihn an jenem Abend tot aufgefunden hatte, war ihr erster
Gedanke gewesen, dass er sich mit den falschen Leuten eingelassen hatte, die
keinen Spaß verstanden, wenn man sich nicht an die vereinbarten Regeln hielt …
Ihr zweiter Gedanke war gar kein Gedanke gewesen, sondern ein eisiger Luftstrom
aus tiefschwarzem Schuldbewusstsein. Der dritte galt Robert Scheidner. Sie bat
ihn zu kommen.
Früher waren sie mal eng befreundet gewesen. Dass der Kontakt nach
dem Tod seiner Frau immer oberflächlicher und sporadischer geworden war, hatte
sie immer bedauert, wenn sie auch nachvollziehen konnte, dass Robert sich
zurückzog. Sie hatte eine Freundin und Kollegin verloren, Robert seine große
Liebe. Er war sofort zur Stelle gewesen, als sie ihm gesagt hatte, worum es
ging.
»Ich befürchte, dass Jörg ein paar dunkle Geheimnisse mit sich
herumschleppte«, hatte sie ihm
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