Bernsteinsommer (German Edition)
bemerkte sofort, dass er es nur tat, weil er das Bedürfnis hatte, sich ein bisschen zu bewegen. Ruhig blieb sie in ihrem Sessel sitzen und sah zu, wie er einige Male durch ihr kleines Wohnzimmer tigerte, bis er schließlich vor dem Fenster stehen blieb. Sie wusste, dass er nicht wirklich hinaussah, als er ihr seinen breiten Rücken zuwandte.
„Ich weiß genau, dass ich sie nicht glücklich machen kann“, fuhr er schließlich fort. „Ich bin nicht der Mann, für den sie mich hält.“
„Aber das ist nicht alles, worüber du dir Sorgen machst, oder?“
„Nein.“ Abrupt drehte er sich wieder zu ihr herum. „Ich kann sowieso niemanden glücklich machen! Mein … mein Leben ist … ich bin ein seelisches Wrack. Und um diesen Satz überhaupt sagen zu können, habe ich einige Monate Psychotherapie gebraucht.“
Ihr Blick ruhte unverwandt auf seinem Gesicht. „Was ist mit dir passiert?“
Er holte tief Luft. „Ich habe den Tod eines Menschen verschuldet, Magda, eines Menschen, den ich geliebt habe wie meinen eigenen Bruder.“
Endlose Sekunden lang blieb es still. Magda sah ihn nur an und bemerkte, dass jetzt Tränen über seine Wangen liefen. Finns Miene drückte den unsäglichen Schmerz aus, der ihn schon seitJahren quälen musste. Es ging ihr sehr nahe, diesen äußerlich so auffallend virilen und starken Mann so aufgelöst zu erleben. Seine seelische Qual war fast mit Händen zu greifen.
„Ich frage dich noch einmal, Finn, was ist passiert?“
Er erzählte es ihr, ja, er beichtete dieser ihm noch immer fremden Frau alles. Viel mehr noch, als er jemals seinen Psychiatern, ja selbst seiner Familie preisgegeben hatte, denn er sprach endlich auch einmal über seine eigene Qual und fasste sie in Worte. Finn ließ alles heraus. Schluchzend, das Gesicht mit den Handflächen bedeckt, saß er schließlich wieder neben Magda auf dem Sofa und ließ sich von ihr trösten. Die ältere Frau hielt ihn jetzt im Arm wie ein kleines Kind und streichelte ihm immer wieder über den Kopf.
„Ja, es ist gut, Finn. Es ist gut“, flüsterte sie.
Minutenlang ließ er sich gehen, aber es war ihm hinterher nicht einmal peinlich. Es tat ihm überraschend gut, seine unsichtbare Rüstung für diese wenigen und erlösenden Minuten einfach abzuwerfen. Er hätte niemandem erklären können, woher das tiefe Vertrauen zu dieser Frau kam, es war einfach da wie ein Urinstinkt. Nie zuvor war es ihm gelungen, sich einem anderen Menschen gegenüber derart zu öffnen.
Geduldig wartete Magda Quint ab, bis er sich wieder vollständig im Griff hatte, erst dann rückte sie wieder ein kleines Stück von ihm ab. So als wäre nichts gewesen, goss sie frischen Tee in die Tassen, danach stand sie auf, verließ kurz den Raum und kam mit einer Flasche Weinbrand und zwei Gläsern zurück. „Trink das“, ordnete sie an, nachdem sie eingeschenkt hatte. Ihr eigenes Glas leerte sie in einem Zug. Finn tat es ihr nach.
„Willst du noch einen?“, fragte sie.
„Nein, ich muss noch fahren.“
Seine Augen waren jetzt wieder vollkommen normal, und die Wärme des Alkohols in seinem Magen tat ihm gut.
„Du trägst nicht die geringste Schuld am Tod deines Freundes, Finn.“
„Oh doch, das tue ich.“
„Nein, du willst es nur so sehen, der Himmel weiß, warum. Der Junge hätte auf dich warten müssen. Obwohl ich nicht weiß, ob das wirklich etwas gebracht hätte. Aus meiner Sicht hat er außerdem ziemlich unvorsichtig und eigenmächtig gehandelt.“
„Ich habe immer auf ihn aufgepasst, Magda, immer! Nur dieses eine Mal bin ich zu spät gekommen. Verdammt noch mal, ich hatte den ganzen Tag lang schon so ein dummes Gefühl, ich hätte …“
„Er war Polizist, genau wie du. Polizisten können nun einmal verletzt werden oder gar sterben, wenn sie ihre Arbeit ausüben, das war zu keiner Zeit anders. Und jeder, der diesem Beruf nachgeht, sollte das wissen. Dein Freund war ein erwachsener Mensch. Er kannte das Risiko, hat es schlichtweg in Kauf genommen. Er hat diese Entscheidung getroffen, Finn. Er ganz allein!“ Sie atmete hörbar aus und schenkte sich noch einen weiteren Weinbrand ein. „Warum hast du deine private Psychotherapie letztlich auch noch abgebrochen?“
Finns breite Schultern zuckten. „Die Ärzte konnten mir nicht mehr weiterhelfen. Ich kam keinen Schritt voran. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, ich müsste den Rest des Weges allein gehen, verstehst du das?“
„Ja, ich verstehe es, weil es zu dir passt.“
„Und dann habe
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