Bestien
»Es ergab natürlich
keinen Sinn, und schließlich rief ich einen Freund in Canon
City an.«
Sharon runzelte die Brauen. »Canon City?«
»Das ist auf der anderen Seite der Berge, bei Pueblo.« Sein
Blick begegnete Sharons. »Dort ist eine staatliche Nervenheilanstalt«, sagte er. »Mein Freund ist dort beschäftigt.«
»Ich verstehe«, murmelte Sharon.
»Jedenfalls sagte er mir, ich solle Charlotte lieber zu ihnen
schicken«, fuhr Chuck fort. »Also forderte ich einen Krankenwagen an und kam dann nach Haus.« Er sah auf die
Armbanduhr, stand auf. »Kommen Sie herauf«, sagte er. »Sie
werden es nicht glauben.«
Sharon folgte ihm schweigend die Treppe hinauf und zum
Schlafzimmer. Die Tür hing schief an einem einzigen
Scharnier und war gegen die Wand zurückgeschoben, und der
Raum selbst bot einen chaotischen Anblick.
Chucks Kleidungsstücke lagen überall verstreut, und sogar
die Schubladen waren aus der Kommode gezogen. »Sie hatte
sich eingeschlossen«, erklärte er. »Sie hatte mir erklärt, sie
werde mich aus dem Haus werfen, da ich Teil eines
Komplottes sei, das sie sich einbildete. Sie war nicht mehr
vernünftig, und schließlich …« Wieder zuckte er die Achseln
und blickte auf seine Armbanduhr. »Tut mir leid, ich muß
gehen. Ich habe hier ein paar von Charlottes Sachen und muß
sie nach Canon City bringen.«
»Ich sehe«, flüsterte Sharon. Nach einem letzten Blick in
den verwüsteten Raum folgte sie Chuck die Treppe hinunter
und aus dem Haus. »Es – es muß schlimm für Sie gewesen
sein«, sagte sie endlich, als Chuck den Koffer auf den Rücksitz
seines Buick warf.
»Es ist nicht leicht gewesen«, sagte Chuck, als er sich hinter
das Lenkrad schob. Er begegnete Sharons Blick und sah
schnell weg. »Aber für sie ist es viel schlimmer gewesen«,
sagte er. »Ich – ich weiß wirklich nicht, wie es jetzt weitergehen soll.«
»Wenn ich etwas tun kann«, fing Sharon an, aber Chuck
winkte ab.
»Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit«, sagte er bekümmert. »Aber ich fürchte, es gibt keine. Jedenfalls nicht jetzt.«
Er startete den Motor, bot Sharon an, sie mitzunehmen, aber
sie lehnte ab, und einen Augenblick später fuhr er davon.
Sharon stand auf dem Gehsteig und sah dem Buick nach, bis
er außer Sicht gekommen war, dann wandte sie sich noch
einmal zum Haus.
In ihrer Erinnerung hörte sie wieder den unzusammenhängenden Hilferuf Charlottes am Telefon und sah wieder den
Blick, der am Samstag in Charlottes Augen gewesen war, kurz
bevor Chuck mit ihr Sharons Haus verlassen hatte.
Glauben Sie ihm nicht, hatte dieser Blick gesagt. Bitte,
glauben Sie ihm nicht!
Dann vergegenwärtigte sie sich das Durcheinander im
Schlafzimmer. Obwohl Chucks Kleidungsstücke überall verstreut gelegen hatten, hatte sie von Charlottes Kleidern nicht
eine Spur gesehen.
Charlottes Kleiderschrank war nicht einmal geöffnet
worden.
Und doch hatte Chuck gesagt, er packe Charlottes Sachen,
um sie ihr in die Heilanstalt zu bringen.
»Keine Sorge«, sagte Sharon mit halblauter Stimme, obwohl
niemand in der Nähe war, der sie hätte hören können. »Ich
glaube ihm nicht. Ich glaube ihm kein einziges Wort!«
18
MIT UNBEHAGEN BETRACHTETE SHARON das TarrentechGebäude. Natürlich hatte sie es schon des öfteren gesehen und
sogar bewundert. Es war so vollkommen seiner Umgebung
angepaßt, daß es beinahe einem natürlichen Landschaftsbestandteil glich. Nun aber schien es sich verändert und das
Aussehen eines Tieres angenommen zu haben, das im
Unterholz auf seine Beute lauerte. Das war selbstverständlich
lächerlich – es war nichts als ein Gebäude, und nichts daran
hatte sich verändert. Sie selbst hatte sich verändert, und
niemals hatte sie dies deutlicher gespürt als auf dem Weg von
der Stadt hinaus zu dem niedrigen Bauwerk, das inmitten einer
parkähnlich gestalteten Landschaft stand. Für den Fall, daß
jemand sie beobachtete, war sie langsam gegangen, als hätte
sie nichts als einen gemächlichen Spaziergang im Sinn.
Auch das war albern, dachte sie bei sich, als sie auf den
Eingang zuschritt. Sie hatte auf den Hilferuf einer Bekannten
reagiert, sonst nichts. Warum sollte jemand sie beobachten?
Dennoch ertappte sie sich dabei, daß sie unbehaglich umherblickte und nach den verborgenen Kameras suchte, von denen
sie wußte, daß sie auf sie gerichtet waren. Aber die Kameras
hatten kein persönliches Interesse an ihr; sie waren nichts als
unbelebte Objekte, die ständig den Umkreis des Gebäudes
überwachten, nichts
Weitere Kostenlose Bücher