Bestien
hat Mark mich
einfach so verlassen?«
»Aber er hat es doch nicht getan, Kind«, versicherte ihr
Sharon. »Es war bloß ein Traum, und was in Träumen
geschieht, ist nicht wirklich.«
»Es fühlte sich aber wirklich an«, widersprach Kelly »Und
Mark war so anders, als er wirklich ist. Jedenfalls«, fügte sie
etwas leiser hinzu, und ihr Blick wich dem der Mutter aus,
»war er anders, als er es sonst immer war, bevor wir
hierherzogen.«
Sharon fühlte einen Knoten innerer Spannung in ihrem
Magen, aber in ihrer Antwort bemühte sie sich, ihre eigenen
Gefühle nicht zu verraten. »Wie meinst du das?« fragte sie.
Kelly zuckte in übertriebener Geste die Achseln, kuschelte
sich dann in ihr Bett und zog die Decke bis zum Kinn. »Ich
weiß nicht«, sagte sie, und ihr kleines Gesicht verzog sich in
einem Ausdruck höchster Konzentration. »Er kommt mir
einfach anders vor, das ist alles. Ich meine, er kümmert sich
nicht mal mehr um seine Kaninchen, und ich glaube, Chivas
hängt nicht mehr so wie früher an ihm.«
Sharon legte ihr die Hand an die Wange. »Und wie ist es mit
dir?« fragte sie. »Du magst Mark noch immer, nicht wahr?«
»J-ja«, sagte Kelly stockend, als sei sie sich ihrer Gefühle
nicht ganz sicher. »Aber er ist anders. Er – er sieht sogar anders
aus.«
Sharon lächelte gezwungen. »Das liegt daran, daß er viel
trainiert und weil er anfängt, schneller zu wachsen.«
Kelly schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Das ist es nicht«,
sagte sie. »Es ist was anderes. Es ist wie …«
Plötzlich brach sie ab, als ein Geräusch aus der Nacht
hereindrang. Obwohl es aus weiter Ferne zu kommen schien,
erkannte Kelly es augenblicklich wieder.
Es war derselbe schrille Wutschrei, den sie erst vor wenigen
Minuten in ihrem Alptraum gehört hatte. Ihre Augen weiteten
sich rund und angstvoll, und sie krallte sich in die Bettdecke.
»H-hast du das gehört?«
Sharon zögerte, ging dann zum Fenster und öffnete es. Die
kalte Nachtluft strömte herein, und sie zog den Morgenmantel
enger um sich. Es war ganz still draußen, und im Osten
zeichneten sich die Bergkämme vom ersten Grau der
einsetzenden Dämmerung ab. Sie lauschte einen Moment,
hörte aber nichts. Gerade als sie sich vom Fenster umwandte,
kam das Geräusch wieder.
Diesmal war es unverkennbar. Es mußte ein Tier sein, das in
der Nacht jagte, aber nun klang es, als litte es Schmerzen.
Sharons Gedächtnis lieferte ihr ungefragt das Bild eines
Ausstellungsstückes, das sie vor Jahren in einem Museum
gesehen hatte. Es war ein Diorama gewesen, und hinter dem
Glas, für immer im Augenblick qualvollen Schmerzes
festgehalten, war ein ausgestopfter Puma gewesen, den Rachen
in lautlosem Brüllen geöffnet, eine der breiten Pranken in den
Stahlzähnen einer Falle gefangen. Realistisch aussehende rote
Farbkleckse verklebten das Fell von Pranke und Bein, und über
der Falle war die Haut samt dem Fell abgerissen, wo das Tier
versucht hatte, sich durch Bisse zu befreien.
Der Schrei, der die Nacht zerriß, als Sharon jetzt in Kellys
Fenster stand, glich aufs Haar dem Geräusch, das sie sich als
aus dem Rachen dieses gefangenen und verwundeten Berglöwen kommend vorgestellt hatte.
Der Schrei erstarb in der Ferne, und Sharon schloß das
Fenster fest. »Es ist nur ein Tier, Kind«, sagte sie zu Kelly, die
jetzt aufrecht im Bett saß und sie mit angstvollen Augen ansah.
»Es ist irgendwo oben in den Bergen und kann dir nichts tun.«
»Aber w-wenn es herunterkommt?«
Sharon sah auf den Wecker. Es war kurz vor sechs, und der
Osthimmel wurde von Minute zu Minute heller. »Weißt du
was?« sagte sie. »Wir zwei ziehen uns an und gehen hinunter.
Dann machen wir ein schönes Frühstück und überraschen
deinen Vater und Mark.«
Kellys Miene hellte sich augenblicklich auf, und im Nu war
sie aus dem Bett geschlüpft, hatte den Schlafanzug abgestreift
und zog ihre Kleider an.
»Zuerst waschen«, sagte Sharon. Und als Kelly ins Bad
tappte, ging sie hinunter und stellte Kaffeewasser auf. Aber
selbst nachdem Kelly ein paar Minuten später zu ihr in die
Küche kam, fand Sharon, daß sie nicht viel sprach, weil das,
was Kelly von Mark gesagt hatte, noch immer ihre Gedanken
beschäftigte.
Denn auch Sharon waren die Veränderungen, die in ihrem
Sohn stattfanden, nur zu bewußt. Sie hatte sie dem hormonalen
Ungleichgewicht des Heranwachsenden zuschreiben wollen,
doch selbst wenn sie sich selbst davon zu überzeugen suchte,
daß nichts fehle, tat sie es mit dem tieferen Wissen, daß sie sich
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