Bestien
Tatsache zu stellen, daß sie die Sache in Wahrheit nur
auf die lange Bank geschoben und den Augenblick hinausgezögert hatte, da sie endlich mit den Mäusen im Gefrierfach
etwas würde unternehmen müssen – der einen, die normal
schien, und der anderen, die so grotesk deformiert und
unnatürlich groß war.
Sie hatte der unangenehmen Geschichte aus dem Weg gehen
wollen und versucht, die Möglichkeit zu leugnen, daß die
Mäuse irgend etwas mit dem Sportzentrum und der
Sportmedizinischen Klinik zu tun hatten. Und doch kam ihr
jedesmal, wenn sie an die Tiere dachte, ungebeten das Bild der
Footballmannschaft von Silverdale in den Sinn.
Allesamt große Jungen – übergroße Jungen, sechzehnjährige
mit dem Körperbau von ausgewachsenen Athleten, eins achtzig
bis eins neunzig groß und über hundert Kilo schwer.
Aber das war schwer vorstellbar. Sicherlich würde Tarrentech kein Experimentieren mit menschlichen Versuchspersonen
erlauben, schon gar nicht mit den Kindern der eigenen
Angestellten. Und Jerry und Elaine Harris’ eigener Sohn war in
der Footballmannschaft.
Und er war auch so ein großer Kerl, dachte sie bei sich. Viel
größer und massiger als seine Eltern.
Sie erinnerte sich wieder des mageren asthmatischen
Jungen, der vor drei Jahren San Marcos verlassen hatte. War es
wirklich möglich, daß solch eine Veränderung in Robb nur
durch ein Programm von Vitaminkomplexen und körperlichen
Übungen, verbunden mit reiner Gebirgsluft, zustande gekommen sein sollte? Es klang zu gut, um wahr zu sein.
Aber wenn bei Tarrentech und in der Sportmedizinischen
Klinik etwas vorging, bedeutete es, daß Mark bereits darin
verstrickt war.
Das natürlich war der tiefere Grund, der sie hatte zögern
lassen, sich dem Problem zu stellen. Sie wollte nicht glauben,
daß die Veränderungen bei Mark – die Veränderungen, deren
Existenz sie nicht hatte wahrhaben wollen, bis Kelly heute früh
über sie gesprochen hatte – etwas anderes als die natürlichen
Veränderungen sein könnten, die in jedem heranwachsenden
Jungen geschahen.
Aber die eingefrorenen Mäuse ließen ihr keine Ruhe.
Sie sah wieder zum Telefon, streckte die Hand zum Hörer
aus, zögerte. Sie sagte sich, es gebe keinen Grund, daß sie sich
sorgte, und sie habe nichts Unrechtes getan, wenn sie
herumtelefoniert und versucht hatte, Charlotte LaConner
ausfindig zu machen. Gleichwohl hatte sie in den letzten Tagen
beim Telefonieren mehrmals eine eigenartige Dumpfheit des
Klanges gehört, als hätte jemand irgendwo mitgehört. Zweimal
hatte sie ganz unverkennbar ein leises Klicken vernommen, als
hätte jemand sich ein- oder ausgeschaltet.
Konnte es sein, daß ihr Telefon abgehört wurde?
Mein Gott, ächzte sie in sich hinein, ich benehme mich
schon wie Charlotte LaConner! Paranoid! Der Gedanke machte
ihren Atem stocken. Hatte sie nicht selbst darauf bestanden,
daß Charlotte vielleicht nicht paranoid sei, daß vielleicht tatsächlich etwas vorging und daß Charlotte darauf gestoßen sei?
Sie faßte sich ein Herz, nahm den Hörer ab und wählte das
Bezirkskrankenhaus. Sie ließ sich mit Dr. MacCallum
verbinden, und einen Augenblick später hörte sie seine
freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ah, Dr. MacCallum?« stammelte sie, noch immer nicht
ganz sicher, was sie sagen sollte. »Hier ist Sharon Tanner,
Marks Mutter.«
»Ach ja, hallo«, sagte Maccallum
– dann nahm seine
Stimme einen besorgten Ton an. »Was gibt es? Mark ist
gesund, hoffe ich?«
»Ja«, sagte Sharon. Dann schüttelte sie den Kopf, obwohl
sie wußte, daß er sie nicht sehen konnte. »Ich meine – nun, ich
nehme an, daß er gesund ist. Aber ich überlegte gerade, ob ich
mit Ihnen über etwas sprechen könnte.«
MacCallum zog die Brauen zusammen. Er merkte Mrs.
Tanners Stimme an, daß sie aufgeregt war, aber wenn es mit
Mark zu tun hatte, warum hatte sie gesagt, daß er gesund sei?
»Was haben Sie auf dem Herzen, Mrs. Tanner?«
Sharon zögerte, war im Begriff, ihre Befürchtungen zu
erklären, als sie ein fast unhörbares Klicken vernahm und das
Telefon jenen eigenartigen dumpfen Klang annahm, der ihr
vorher schon aufgefallen war. Ein Schauer überrieselte sie, und
als sie weitersprach, konnte sie ihre Nervosität nicht verbergen.
»Es – nun, es ist etwas, worüber ich nicht gern am Telefon
sprechen möchte«, sagte sie.
MacCallums Stirnrunzeln vertiefte sich. Was ging vor? War
jemand hereingekommen? Befürchtete die Frau, daß ihr
Telefon angezapft war? »Ich sehe«,
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