Bestien
Aufenthalts in der Sportklinik.
Anscheinend hatte er ihn sogar genossen. Warum also sollte sie
sich weiter grämen?
Sie stocherte im Feuer, schob das brennende Scheit an die
Rückwand und zog einen Funkenschutz vor den Kamin. Als sie
die Treppe hinunterging, sah sie Kelly am Wohnzimmerfenster
stehen und sehnsuchtsvoll in den Schnee hinausschauen.
Sharon las ihre Gedanken und lächelte. »Wollen wir im Schnee
Spazierengehen?« fragte sie.
Kellys Augen leuchteten auf. »Können wir?«
»Komm«, sagte Sharon. Ein paar Minuten später traten
Mutter und Tochter, eingepackt in die Parkas, die Sharon vor
einigen Tagen erstanden hatte, in den winterlichen Abend
hinaus. Die Flocken waren groß und flauschig, und als sie den
Gehsteig entlanggingen, spürten sie die kalte Luft prickelnd an
Wangen und Ohren. Rasch hüllte sie die sanfte Stille ein, die
immer mit dem ersten Schnee des Jahres einhergeht.
Kelly griff nach der Hand ihrer Mutter. »Mir gefällt es
hier«, sagte sie und blickte in glücklichem Staunen umher.
»Bist du nicht auch froh, daß wir hergezogen sind?«
Sharon antwortete nicht gleich, aber dann überkam auch sie
der Friede des Schneefalls.
»Ja«, sagte sie. »Ich denke schon.«
Indes hatte sie die Worte kaum ausgesprochen, als ihr schon
Zweifel daran kamen.
Charlotte LaConner blickte fröstelnd zum Fenster hinaus in den
Schnee, der langsam ihren Vorgarten zudeckte. Unter normalen
Umständen hätte der Anblick sie entzückt, denn er bedeutete
den baldigen Beginn der Skisaison, und daß Weihnachten –
schon immer ihre Lieblingszeit des ganzen Jahres
– kurz
bevorstand. Heute abend jedoch spiegelte das Weiß draußen
nur die Kälte, die sie in ihrer Seele spürte, und zuletzt wandte
sie sich vom Fenster ab und ihrem Mann zu. Sie wußte, daß
ihre Augen rotgerändert waren, die Wangen noch naß von
Tränen.
»Aber das kann doch nicht sein!« sagte sie wieder »Ich bin
seine Mutter, Chuck. Habe ich nicht das Recht, ihn zu sehen?«
Chuck LaConner, dem die Erinnerung an die verzerrten
Züge seines Sohnes noch tief ins Gedächtnis gegraben war,
zwang sich, Charlotte anzusehen, als er ein weiteres Mal die
Geschichte wiederholte, auf die er und Ames sich spät am
vergangenen Abend geeinigt hatten. Wenigstens bliebe ihr so
erspart, sehen zu müssen, wohin Jeff sich verwandelte. Es war
besser, sie lebte in Unwissenheit, als mit diesem schrecklichen
Bild, das ihr für den Rest des Lebens ins Bewußsein gebrannt
sein würde. »Es würde weder dir noch ihm irgendeinen Nutzen
bringen«, sagte er. »Charlotte, er würde dich nicht einmal
wiedererkennen.«
»Aber das ist nicht möglich«, schluchzte Charlotte auf. »Ich
bin seine Mutter, Chuck – er braucht mich!«
»Er braucht Ruhe«, beharrte Chuck. »Schatz, ich weiß, daß
es sich verrückt anhört, aber so etwas geschieht manchmal. Jeff
hat in letzter Zeit unter starkem Druck gestanden …«
»Und ist das meine Schuld?« fuhr Charlotte auf. »Du
erinnerst dich, ich wollte ihn aus der Mannschaft herausnehmen.«
Chuck fluchte in sich hinein. Und ob er sich erinnerte. Der
Streit um diese Frage hatte nicht mehr aufgehört, seit sie
gegangen war, diesen Ramirez-Jungen im Krankenhaus zu
besuchen; und er hatte sie noch immer nicht überzeugen
können, daß es nicht Jeffs Schuld war, was sich damals
ereignet hatte. Dann merkte er, daß es vielleicht eine
Möglichkeit gab, ihre eigenen Worte gegen sie zu wenden und
dieser Diskussion ein für allemal ein Ende zu machen. »Ist dir
schon mal in den Sinn gekommen, daß dein Nörgeln zu dem,
was geschehen ist, beigetragen haben mag?« fragte er und legte
mit Bedacht eine eisige Schärfe in seine Worte. Als sie
zurückschreckte, sagte er sich abermals, daß dies alles nur zu
ihrem Besten sei.
Charlotte ließ sich schlaff aufs Sofa fallen und starrte ihn
trübe an. »Hat er das gesagt?« fragte sie mit hohler Stimme.
»Daß alles meine Schuld sei?«
Chuck befeuchtete sich nervös die Lippen. »Vielleicht nicht
so ausdrücklich«, sagte er, »aber es läuft darauf hinaus, daß es
im Augenblick das beste ist, was wir tun können – wir beide –,
wenn wir Jeff den Ärzten überlassen. Und es ist schließlich
nicht für immer. Nach einer Weile, wenn es ihm besser
geht…«
Er ließ den Rest ungesagt. Ein Teil seines Verstandes sagte
ihm, daß er seiner Frau gerade eine faustdicke Lüge aufgetischt
hatte; Jeff würde niemals wieder gesund. Aber es gab einen
anderen Teil seiner selbst, der daran glauben wollte, daß
Martin
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