Bestien
Ames irgendwie eine rettende Lösung finden würde, die
ihren Sohn doch noch aus den Zähnen dieses furchtbaren
Geschickes zurückreißen könnte.
Im Moment aber kam es darauf an, Charlotte davor zu
bewahren, daß sie entdeckte, wie schlimm Jeffs Lage
tatsächlich war. Natürlich würde er sich niemals vergeben, was
geschehen war, und sich bis an sein Lebensende Vorwürfe
machen, daß er Jeff einem medizinischem Programm überantwortet hatte, das Risiken enthielt, ganz gleich, wie
geringfügig sie gewesen sein mochten.
Er hatte seinen Sohn verloren. Das war ihm in den dunklen
Stunden dieses Morgens klargeworden, als Marty Ames ihn
endlich zu Jeff gelassen hatte. In einer ersten instinkthaften
Reaktion hatte er sich gegen Ames wenden und auf den Mann
einschlagen wollen, der dies getan hatte. Am Ende aber hatte,
wie es bei ihm immer der Fall war, die Vernunft gesiegt. Er
hatte einsehen müssen, daß letzten Endes er selbst der
Schuldige war, weil er die endgültige Entscheidung getroffen
hatte, Jeff mit Ames’ experimentellen Hormonen behandeln zu
lassen.
Er war so ehrgeizig gewesen, hatte so sehr gewünscht, daß
Jeff wie alle anderen Jungen sein würde – besonders wie alle
anderen Jungen in Silverdale
–, daß er seinen Verstand
vorsätzlich gegen die möglichen Nebenwirkungen von Ames’
Behandlung verschlossen hatte.
Und so hatte er sein einziges Kind verloren.
Und wenn Charlotte entdeckte, was er getan hatte, entdeckte, was Jeff wirklich widerfahren war, würde er auch sie
verlieren.
Aber so mußte es nicht sein, dachte er. Wenn er sie nur
überzeugen könnte, daß Jeffs Probleme überhaupt nicht
physiologischer Art seien, sondern daß ihr Sohn einfach einen
geistigen Zusammenbruch erlitten habe und eine Ruheperiode
benötige – vielleicht müßte sie dann nie die ganze Wahrheit
erfahren.
Vielleicht würde Ames ein Heilmittel finden, und Jeff wäre
gerettet.
Oder vielleicht…
Er verschloß seine Gedanken gegen die andere Möglichkeit,
sagte sich, daß es nicht geschehen würde. Es würde einfach so
sein, wie Jerry Harris es ihm an diesem Nachmittag auseinandergesetzt hatte.
»Ich möchte nicht, daß Sie sich irgendwelche Sorgen
machen«, hatte Harris erklärt, nachdem er Chuck in sein Büro
hatte rufen lassen. »Ich habe mit Marty Ames gesprochen, und
er glaubt, es bestünden gute Aussichten, diese Sache zum
Besseren zu wenden. Und Sie können sich auf Tarrentech
verlassen: Was Jeff auch braucht, er wird es bekommen.« Sie
hatten noch eine Weile geredet, und Harris hatte wiederum
versichert, daß man Jeff und die Familie LaConner nicht im
Stich lassen werde, ganz gleich, was geschehen sollte. »Und
wenn wir dies hinter uns haben«, hatte Harris abschließend
gesagt, »können Sie mit Ihrer Frau sich aussuchen, wohin Sie
gehen wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie in
Silverdale bleiben wollen, nicht nach diesem Geschehen. Die
Welt ist groß, und wir sind ein großes Unternehmen. Und wir
sorgen für unsere Leute.«
In seinem Kummer und Schuldgefühl hatte Chuck die
Botschaft gleichwohl vollkommen verstanden. Was mit Jeff
geschehen war, sollte unter den Teppich gekehrt werden, und
weder die eingetretene Situation noch seine Rolle darin sollten
jemals öffentlich gemacht werden.
Einen Augenblick lang hatte er Jerry Harris gehaßt, dann
aber hatte sich wieder der pragmatische Kern seiner
Persönlichkeit durchgesetzt – der kalte, analytische Teil seiner
selbst, der ihn mit den Jahren nicht nur zu einem wertvollen
Mitarbeiter von Tarrentech gemacht, sondern ihn auch
veranlaßt hatte, vor drei Jahren Jeffs Chancen abzuwägen und
dann in etwas einzuwilligen, was er damals für ein nahezu
risikoloses und zugleich aussichtsreiches Glückspiel zugunsten
seines Sohnes gehalten hatte.
Es hatte keinen Sinn, Harris zu hassen. Hatte der Mann nicht
das gleiche Glücksspiel mit Robb gewagt? Und Tom Stevens
mit Randy? Und wie viele andere?
Sie waren alle gleich. Sie alle hegten die gleichen
Hoffnungen, den gleichen Ehrgeiz für ihre Söhne; die gleichen
Ambitionen für sich selbst. Sie alle hatten gespielt.
Die meisten von ihnen hatten gewonnen.
Tom Stevens hatte verloren.
Und nun hatte er verloren.
Aber er mußte nicht alles verlieren. Noch immer hatte er
seine berufliche Laufbahn, und er hatte seine Frau. Und keines
von beiden wollte er verlieren, was auch geschehen mochte.
Er ging zu Charlotte und legte die Arme um sie. »Es wird
ihm besser gehen«, versprach er. »Und sobald das geschieht,
wird er dich
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