Bettler 01 - Bettler in Spanien
vorwurfsvoll an, als müßte sie über den Tod seines Vaters eigentlich Bescheid wissen.
Leisha nahm das Terminal von der Wand.
»Brauchst du gar nich’ versuchen«, sagte Drew. »Also wir, wir haben daheim kein Terminal.«
»Ich will nicht bei deiner Familie anrufen, Drew. Ich will etwas über dich herausfinden. Wo in Louisiana hast du gewohnt?«
»Montronce Point.«
»Bio-Personensuche, alle Hauptdatenbanken«, sagte Leisha. »Drew, sag mir die Nummer deiner Wohlfahrt-Versicherung.«
»842-06-3421-889.«
Montronce war ein winziges Nest im Mündungsdelta des Mississippi; keine nennenswerte Macher-Präsenz. Eintausendneunhundertzweiundzwanzig Einwohner, Schule mit sechzehn Prozent Anwesenheit der in Frage kommenden Kinder, zweiundsechzig Prozent Anwesenheit der freiwilligen Lehrer, die das Gebäude achtundfünfzig Tage im Jahr offen hielten. Drew war einer der sechzehn Prozent – mehr oder weniger. Eine Krankengeschichte für ihn existierte nicht, doch diejenigen seiner Eltern und der beiden kleineren Schwestern waren vorhanden. Leisha hörte sich alles an und wurde sehr still.
Als das Terminal geendet hatte, sagte sie: »Aber deine Noten waren nicht gar so toll, Drew. Selbst für das, was in Montronce als Schule gilt.«
»Nee«, räumte der Junge ein. Seine Augen wandten sich keine Sekunde lang von ihrem Gesicht ab.
»Du scheinst auch kein besonderes Talent für irgend etwas zu haben, für Sport etwa oder Musik.«
»Nee, hab ich nich’.«
»Und du willst in Wirklichkeit gar nicht für einen Macher-Job ausgebildet werden, oder?«
»Ach was, soll sein!« antwortete er aggressiv. »Meinetwegen!«
»Doch wenn du ehrlich bist, willst du gar nicht. Die Susan-Melling-Stiftung wurde aber gerade deshalb ins Leben gerufen, nämlich, um Menschen zu helfen, das zu werden, was sie gern werden wollen. Wie hast du dir also deine Zukunft vorgestellt?« Es schien eine absurde Frage an einen Zehnjährigen – im besonderen an diesen Zehnjährigen. Er war sogar noch ärmer als die meisten anderen Nutzer. Nicht erkennbar begabt. Dürr. Ein stinkender kleiner Schläfer.
Und dennoch nichts Gewöhnliches – die klugen grünen Augen sahen Leisha mit einer Geradlinigkeit und Offenheit an, die den meisten erwachsenen Schläfern abging, selbst in dem entspannten, lustbetonten sozialen Klima der bevorstehenden Dreihundertjahrfeiern. Tatsächlich lag noch mehr in Drews offenem Blick: ein festes Vertrauen auf Leishas Hilfe, das die Bewerber kaum je mitbrachten: Die meisten von ihnen sahen sie zweifelnd an (»Warum solltest du ausgerechnet mir helfen?«) oder mißtrauisch (»Warum solltest ausgerechnet du mir helfen?«) oder mit einer nervösen Unterwürfigkeit, die Leisha unweigerlich an geprügelte Hunde denken ließ, die auf dem Bauch krochen. Drew hingegen sah sie an, als wären er und Leisha Partner bei einem sicheren Geschäft.
»Du hast ja vom Terminal gehört, wie mein Opa draufgegangen ist.«
Leisha sagte: »Er war als Arbeiter bei der Montage von Sanctuary beschäftigt. Eine Metallverstrebung löste sich und zerriß seinen Raumanzug.«
Drew nickte ohne merkbare Trauer. »Also mein Pa war damals noch ‘n kleiner Junge«, sagte er. In seiner Stimme lag die gleiche Zuversicht wie in seinen Augen. »Und die Wohlfahrt hat zu der Zeit noch für kaum was gesorgt.«
»Ich erinnere mich«, sagte Leisha mit einem bitteren Lächeln. Wofür die Wohlfahrt zu der Zeit dank billiger Y-Energie und sozialem Gewissen gesorgt hatte, war rein gar nichts im Vergleich zu dem, wofür die Macher und der Staat jetzt sorgten – dank der Notwendigkeit von Wählerstimmen. Brot und Spiele: aus der römischen Barbarei nur durch die gleichen billigen, reichlich fließenden Wohltaten für alle herübergerettet. Doch sorgenfrei und umworben, wie sie waren, mangelte es den Nutzern an jeglicher aufgestauter Wut für die Arena.
Leisha hätte erwartet, daß Drew über ihre Bezugnahme auf die Vergangenheit hinweggehen würde; die meisten Kinder empfanden alles, was vor ihrer Zeit geschehen war, als belanglos. Aber er überraschte sie. »Also du erinnerst dich da dran? Wie’s damals war? Wie alt bist’n du eigentlich, Camden?«
Er weiß es nicht besser, als meinen Familiennamen zu verwenden, dachte Leisha nachsichtig – und erkannte zum erstenmal Drews Gabe. Sein Interesse an ihr strahlte so stark, so ungekünstelt und ehrlich aus seinen grünen Augen, daß sie augenblicklich willens war, ihm vieles nachzusehen. Er war in Unschuld gehüllt wie
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